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Der Etana-Mythos

Eine Übergangsgeschichte aus dem Zweistromland

1. Der Etana-Mythos kurz erzählt

Das Etana-Epos beginnt mit einer Belehrung, wie die Götter die Stadt erfunden haben, für die sie nun einen König benötigen. Ishtar, Göttin der Liebe und des Krieges, Tochter des Mondgottes, findet Etana, den Hirten, und macht ihn zum ersten König von Kish.

An einem anderen Schauplatz spielt sich die Geschichte von dem Adler und der Schlange ab, die einträchtig übereinander in den Stockwerken einer Euphrat-Pappel leben. Sie haben ein Abkommen, sich gegenseitig zu unterstützen und ziehen in ihren Nestern ihren Nachwuchs auf. Der Adler allerdings ist faul und lässt die Schlange jagen bis er Lust bekommt, die Schlangenkinder zu fressen. Er wird von seinem klügsten Kinde gewarnt, dennoch begeht er den Frevel1 Im Bild oben zeigt der Abdruck eines Rollsiegels möglicherweise den Adler, der zwei Schlangenkinder gepackt hat.. Die Schlange ist entsetzt über die Untreue des Adlers und in ihrer Trauer und Wut wendet sie sich an den Sonnen- und Richtergott Shamash. Sie folgt seinem Rat, sich im Kadaver eines Wildstieres2 Zum Stier-Symbol siehe Interpretationen im Referat zu Çatal Höyük auf dieser Homepage zu verstecken und dem Adler aufzulauern. Als sie den Adler packt, versucht er noch mit ihr zu verhandeln und bietet ihr eine Ehegabe an. Aber die Schlange zerrt den Adler in eine Grube, wo er verschmachten soll.

Doch auch der Adler findet bei Shamash Gehör, der ihm den Etana schickt. Etana benötigt dringend das Gebärkraut, denn seine Frau wird nicht schwanger. Der Adler verspricht ihm als Gegenleistung für seine Befreiung, das Kraut zu beschaffen. Etana träumt einen Traum, der ihm sagt, wo das Kraut zu finden ist. Gemeinsam fliegen sie los, zu Ishtar, die im Himmel zusammen mit Shamash und zwei weiteren Göttern regiert. Während des Fluges lässt der Adler Etana absichtlich dreimal fallen und fängt ihn kurz vor dem Aufprall wieder auf. Jedesmal davor lässt er sich von Etana beschreiben, wie die Welt von oben aussieht. Doch schließlich erreichen sie Ishtars Haus, und verschaffen sich Eintritt…
(Hier bricht die Geschichte ab.)

1 Im Bild oben zeigt der Abdruck eines Rollsiegels möglicherweise den Adler, der zwei Schlangenkinder gepackt hat.
2 Zum Stier-Symbol siehe Interpretationen im Referat zu Çatal Höyük auf dieser Homepage

2. Etana-Forschung

Nach der ersten bekannten Niederschrift wurde der Text weiter verbreitet und dabei immer wieder verändert. So sind nun drei keilschriftliche Tafeln bekannt. Eine altbabylonische, eine mittelassyrische und eine neuassyrische Tafel wurden Ende des Neunzehnten Jahrhunderts entdeckt. Semiten könnten genuine Träger des Etana-Erzählung sein.3Aus Quelle 1. Die altbabylonische Fassung (ca. 1800 v.u.Z.) ist in Akkadisch (eine ostsemitische Sprache) verfasst. Dass sumerische Versionen gefunden werden könnten, soll daher fraglich sein, obwohl Etana an erster Stelle der sumerischen Königsliste genannt ist. Diese Liste führt überraschend semitische und sumerische Namen gemischt auf: So folgte der sumerischen Königin Kubaba, ihr Sohn mit semitischem Namen, ihm wiederum ein Sohn mit sumerischem Namen.4Aus Quelle 4. Zu Kubaba siehe auch Kapitel 6 unten sowie Die Spuren der Großen Göttin von Çatal auf dieser Homepage. Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts lagen der Mythenforschung alle drei Versionen übersetzt vor.

Die Interpretation der Etana-Geschichte ist eine besondere Herausforderung nicht nur wegen der Zweiteilung in eine reine Tiergeschichte und eine Mensch-Tier-Gottheit-Geschichte. Schon seit hundert Jahren wird über den genauen Wortlaut debattiert. Die Tafeln sind ja teilweise beschädigt, es fehlen ganze Passagen oder manche Sätze oder Worte sind nur fragmentarisch erhalten5Die Abbildung oben bietet eine Vorstellung vom Grad der Zerstörung. Neuassyrische Tafel. 700 v.u.Z., Ninive. Original im Britischen Museum, London.. Auch ist nicht vollständig geklärt, welche Seiten der Tafeln als Vorder- oder Rückseite anzusprechen sind. Daraus ergeben sich Varianten der Reihenfolge im Erzählgang. Auch sind einige Worte nicht zweifelsfrei übersetzt. Um die eigentliche Deutung des Textes jedoch, um seinen Gehalt, wird meist herumgeschlichen, wie die Katze um den heißen Brei. Was aber hindert die Forschung? Um dies zu beantworten und uns selbst „einen Reim zu machen“ brauchen wir noch weitere Hintergrundinformationen.

3  Aus Quelle 1.
4  Aus Quelle 4. Zu Kubaba siehe auch Kapitel 6 unten sowie Die Spuren der Großen Göttin von Çatal auf dieser Homepage.
5  Die Abbildung oben bietet eine Vorstellung vom Grad der Zerstörung. Neuassyrische Tafel. 700 v.u.Z., Ninive. Original im Britischen Museum, London.

3. Funktionen von Mythen

Mythen hatten in einer Zeit, die als magische Phase der Menschheit bezeichnet werden kann, die Aufgabe die Welt zu erklären. Die ständige Frage nach dem Warum stellten in dieser Zeit nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen. So bildete sich eine Spiritualität aus, die die Natur als eine weibliche Gottheit6Die Abbildung oben zeigt eine von Zehntausenden weiblicher Statuetten, die die Muttergöttin darstellen., die Urmutter, die später die sog. Große Göttin wurde, verehrte und/oder in der Tiere (z. B. die Schlange) und Pflanzen (z. B. der Weltenbaum) als heilig verehrt wurden (Animismus). Die natürliche Moralität des Menschen erübrigte jedes geschriebene Gesetz oder Gebot.
Als sich gesellschaftliche, patriarchalische Strukturen entwickelten, benötigten die neuen Führungspersonen eine Legitimation.7Vergleiche dazu zur Funktion von Königslisten in Quelle 4, Seite 22 unten. Die Mythen, wurden fortan und bis in diese Tage dazu benutzt, Herrschaftsansprüche über Mensch und Natur zu erklären und damit zu festigen. Das nennen wir heute Religion. Dazu wurden die Mythen nach Bedarf angepasst. Dies war jedoch ein schleichender Prozess, dem nicht alle Teile der Geschichten zum Opfer fielen. Die Tiere im Pantheon verloren zunehmend an Bedeutung, die Menschen schufen sich Gottheiten nach ihrem Ebenbild. Behauptet und schriftlich niedergelegt wurde das Gegenteil, siehe Erstes Gebot des Alten Testamentes. Dennoch immer nur kleine Änderungen waren durchsetzbar: So ist es noch heute, wenn wir unseren Kindern Geschichten erzählen. Tiere wurden beispielsweise wieder zu Tieren und damit harmlose Statisten, Pflanzen wurden zur Requisite. Die Große Göttin, die Leben und Tod, Gut und Böse in sich vereinte, wurde zerstückelt in verschiedene Göttinnen, die schließlich nur noch Ehefrauen eines obersten Gottes waren. Ein gutes Beispiel für diesen Prozess ist Ishtar. Sie wird uns zwar als Liebes- und Kriegsgöttin vorgestellt, ursprünglich ist sie jedoch die Große Göttin der Urgeschichte. Der Hinweis, sie sei die Tochter des Mondgottes, ist ein wichtiges Indiz, denn der Mond stand regelmäßig für das weibliche Prinzip, in Anlehnung an den Zyklus der Frau. Mit ihrer neuen Funktion als Kriegsgöttin, ist sie Vorläuferin der griechischen Athene, eine Kopfgeburt des Zeus, und als Liebesgöttin die der Aphrodite. Der Grad ihrer Zerstückelung ist damit noch nicht weit fortgeschritten.

In dieser Entwicklung wurden Botschaften beabsichtigt verschlüsselt und unfreiwillig erhalten. Unsere spannende Aufgabe ist die Entschlüsselung. Dabei haben wir mit der Archäologie und Ethnologie wertvolle Hilfsmittel zur Hand.

 

Die Abbildung oben zeigt eine von Zehntausenden weiblicher Statuetten, die die Muttergöttin darstellen.

7  Vergleiche dazu zur Funktion von Königslisten in Quelle 4, Seite 22 unten.

4. Archäologische Zeugnisse

Aber erst ab etwa der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vollzog die Archäologie eine kleine Revolution bei der Interpretation der vorliegenden Objekte. Die LeserInnen dieser Homepage kennen vielleicht schon das anatolische Çatal-Höyük, für das der Entdecker James Mellaart in den Sechziger Jahren ein Matriarchat (Mütterherrschaft) zu sehen glaubte, aber nicht erkannte, dass er es mit einer egalitären, matrifokalen Gemeinschaft zu tun hat, die bereits Ackerbau betrieb, und in der jedoch die Männer noch ursprüngliche Jäger waren. Weil der Begriff Matriarchat missverständlich ist8siehe dazu die Begriffsklärung auf dieser Homepage., verwende ich den Begriff „Matrifokalität“. Unter Matrifokalität ist, das ist entscheidend, nicht „Mütterherrschaft“ zu verstehen, sondern eine friedfertige, egalitäre Lebensweise, die matrilinear und matrilokal funktioniert (nicht: organisiert ist). Die Frau ist natürlicher Mittelpunkt der mütterlichen Linie der Blutsfamilie (Matrilinearität), deren weibliche Mitglieder im Umkreis ihrer Mutter bleiben, auch wenn sie selbst Mutter werden (Matrilokalität). Besitz wird, sofern schon vorhanden, an die Töchter vererbt. Soziale Vaterschaft ist – wie lange Zeit auch die biologische Vaterschaft – noch unbekannt, der Mutter-Bruder (Avunkulus) übernimmt diese Rolle für die männlichen Kinder. Ein wichtigstes Kennzeichen ist die Verehrung der Großen Göttin, die durch zahllose Funde von Statuetten belegt ist. Matristische Züge sind in allen polytheistischen Religionen erhalten, aber auch das Christentum kennt z.B. noch mit Maria die alte Grosse Göttin des vorderen Orients.

Wir haben es hier nicht mit einer fixen Idee einiger weniger SpinnerInnen zu tun, vielmehr ist die matrifokale Lebensweise der Urgesellschaft in allen Ländern nachweisbar und noch heute mancherorts anzutreffen: Die Ethnologie bestätigt durch die Entdeckung noch heute existierender matrifokaler Gemeinschaften oder Sitten, wie z.B. die Besuchsehe oder die Matrilokalität (Ehemann zieht in das Haus der Frau) diese Erkenntnisse.

Der Übergang von der Matrifokalität zum Patriarchat kann natürlich nicht nur dann erforscht werden, wenn anerkannt wird, dass es diesen Übergang gibt, und nicht das Patriarchat die natürliche Lebensweise des Menschen ist. Redliche Wissenschaft wird immer zu diesem Ergebnis kommen. Wir finden unzählige greifbare Spuren und es wurden Mythen aus dieser Zeit überliefert, die kulturhistorisch untersucht keinen anderen logischen Schluss zulassen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist das durch Keilschrifttafeln und Reliefs aus dem Zweistromland unzweifelhaft belegte Ritual der Heiligen Hochzeit. Männliche Herrscher mussten zu Beginn ihrer Amtszeit mit der obersten Priesterin, der Stellvertreterin der Göttin Ishhtar auf Erden, den Geschlechtsakt vollziehen, um göttlichen Status zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Große Göttin bereits ihre Natürlichkeit eingebüßt und war eine Himmelsherrscherin nach patriarchalem Muster, ein Faktum, das vielen MatriarchatsforscherInnen als Beweis für ein Matriarchat gilt. Aber die Heilige Hochzeit war eine Einrichtung des Patriarchats, die dem König Macht verlieh. Sie war jedoch ein Anachronismus aus matrifokaler Zeit, der zusammen mit anderem belegt, wie schleichend, manchmal sogar rekursierend, ja widerstrebend, der Prozess der Patriarchalisierung vonstatten ging. Schließlich verkamen die Priesterinnen zu Tempelhuren, der Geschlechtsakt mit ihnen wurde ritualisierte Vergewaltigung: Der Ausdruck des Machtanspruches des Mannes über weibliche Sexualität und Selbstbestimmung.

Der keilschriftlich niedergelegte Etana-Mythos fällt in diese Zeit. Damit ist er ein wichtiges Zeugnis, das sich genauer zu untersuchen lohnt. Einen erneuten Anschub dafür erhielt die Forschung durch die archäologische Ausgrabung in der turkmenischen Wüste Karakum. Dort grub ein italienisch-russisch-turkmenisches Team9siehe Quelle 2. 10 Jahre lang in den etwa 4000 Jahre alten Überresten der Städte von Gonur Tepe mit deren Nekropole und Adji Kui. In der Nekropole wurde zahllose Frauengräber mit reicher Ausstattung gefunden. Vor allem Siegel mit abstrakten aber auch figürlichen Verzierungen wurden mit in die Gräber gelegt. Sie waren Zeichen des Eigentums und der besonderen Stellung, die die Frauen aus dem klugen Umgang mit den landwirtschaftlichen Ressourcen zogen. Wie nicht mehr anders zu erwarten, fanden sich zudem viele Statuetten mit der Darstellung einer Göttin. Manche heben sich ab durch ihre besondere Machart: An einem bekleideten Körper aus dunklem Ton wurden aus hellem Material ein Kopf mit Hals und Unterarme mit Händen angesetzt10Die Abbildung oben zeigt den oberen Teil einer Figurine dieses Typs.. Die Gestalt ähnelt jedoch den Fat Ladies11Siehe hierzu im Text über Çatal-Höyük., die in anderen Regionen z.B. auch auf Gozo oder in Çatal Höyük gefunden wurden. Andere haben die für das Zweistromland aber auch für Südosteuropa typische Sanduhrenform mit vogelähnlichem Kopf und Schlangenaugen12Siehe Abbildung Kapitel 8, sind unbekleidet und haben ausgeprägte Brüste. In Adji Kui fand der italienische Archäologe Gabriele Rossi-Osmida nun auch Figurinen, die ebenfalls diese Sanduhrenform mit Vogelkopf haben, aber unzweifelhaft männlich13Siehe Abbildung Inhalt mit Phallus dargestellt sind. Er sieht darin den Beleg für einen Wandel hin zum Patriarchat, in dem nun männliche Götter verehrt werden. Es fanden sich zudem zahlreiche Amulette14Siehe Abbildungen Kap. 1, 6, 7 mit Darstellungen, die Rossi-Osmida mithilfe der Altorientalistin Sylvia Winkelmann (Halle) als Ausschnitte aus dem Etana-Mythos identifizieren konnte: Ein Mann auf einem Adler fliegend, zwei Vögel um ein Gefäß stehend, Schlangen um einen Adler usw..
Rossi-Osmida sieht den Etana-Mythos als Geschichte des Übergangs. Etana, zum ersten König von Kisch ernannt, versucht, so Rossi-Osmida, dem „Matriarchat“ (wie er es nennt) das Geheimnis des Lebens zu entreißen. Etana braucht das Gebärkraut, denn seine Frau kann keine Kinder bekommen. Die männliche Erbfolge (patrilineare Dynastie) ist noch nicht gesichert. Das Gebärkraut ist das Mittel zur Erschaffung einer neuen Kultur. Der politische Führer ist fortan ein König.

 

8  siehe dazu die Begriffsklärung auf dieser Homepage.

9  siehe Quelle 2.

10  Die Abbildung oben zeigt den oberen Teil einer Figurine dieses Typs.

11  Siehe hierzu im Text über Çatal-Höyük.

12  Siehe Abbildung Kapitel 8

13  Siehe Abbildung Inhalt

14  Siehe Abbildungen Kap. 167

5. Etana - eine reale Person?

Etana (manchmal auch „Entena“15Die Etymologie des Names E-ten-a verweist auf den Steppen- und Sonnengott Ten-gri, womit ein weiteres sprachliches Indiz vorliegt, dass die Sumerer von Norden nach Mesopotamien einfielen. Die sumerische Silbe En bei En-ten-a) bedeutet „König“, davon ist E die übliche Verkürzung. ) war dem Mythos nach der erste dynastische König von Kisch. In der sumerischen Königsliste erfahren wir: „Etana, der Hirte, der zum Himmel aufstieg, der alle Fremdländer stabilisierte, wurde König; er regierte 1560 Jahre. Balich, der Sohn des Etana, regierte 400 Jahre. „16Übersetzung aus Quelle 5. Es werden jedoch zunächst zwölf nicht dynastische Vorgänger aufgezählt, die in sintflutliche und vorsintflutliche Zeit datiert werden, auch jeweils mit übertriebenen Zeitangaben vergleichbar der Genesis. Können wir also trotzdem davon ausgehen, dass Etana eine reale Person war? Von Etana sind keine Bildplastiken in realistischer Darstellungsweise17Im Bild oben realistische Darstellung des Tempelvorstehers Abichil (Ebish-II). ca. 2400 (oder 2900-2685 nach Quelle 3) v.u.Z., Tempel der Ishtar (Inanna) in Mari. Louvre, Paris. bekannt. Zumindest ist der Ort Kisch lokalisierbar. Dreizehn Kilometer östlich von Babylon liegt Tall al-Uhaymir (arab. tall = tell = Siedlungshügel), eine Ansammlung von 40 Siedlungsresten18aus Quelle 6. auf zwei Stadthügeln19aus Quelle 4., die die Stadt Kisch (= Kusch) bildete. In der Bibel wird Kisch nicht als Stadt20Zur Definition von ‚Stadt‘ siehe auf dieser Homepage., sondern als Land bezeichnet.

In der Nähe des Landes Kisch soll der Genesis zufolge das Paradies gelegen haben:

1. Buch Mose 2: „8Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. 9Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. 10Und es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilte sich von da in vier Hauptarme.11Der erste heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila, und dort findet man Gold; 12und das Gold des Landes ist kostbar. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. 13Der zweite Strom heißt Gihon, der fließt um das ganze Land Kusch. 14Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Euphrat.“

Ähnlichkeiten zum Etana-Mythos sind erkennbar: Zunächst Tiere ohne Menschen, dann der erste Mensch (sprich König?). Ein heiliger Baum, wundertätiges Grünzeug. Mittendrin das wichtigste aller Tiere, die Schlange. Die Genesis setzt an den Anfang der Menschheit zwei Männer, die zusammen eine Frau zeugen, die wiederum zwei Söhne gebiert. Wir erkennen, dass der Beginn des Patriarchats gemeint ist. Die Männer haben das Geheimnis des Lebens bereits gestohlen. Die Genesis lässt den Übergang jedoch weg: Eine radikale Anpassung des Mythos an die geänderten Verhältnisse.

Die Bibel erwähnt den Namen Etana in der Variante „Ethan“ mehrfach. Nur Ethan, der Esrachiter soll mit Etana identisch sein.

1. Könige 5, 10-11: „10Und die Weisheit Salomos war größer als die Weisheit aller Söhne des Ostens und als alle Weisheit Ägyptens. 11Und er war weiser als alle Menschen, als Ethan, der Esrachiter, und Heman und Kalkol und Darda, die Söhne Machols. Und sein Name war unter allen Nationen ringsum.“

Dem Ethan wird auch Psalm 89 zugeschrieben: „Eine Unterweisung Ethans, des Esrachiters“. Mir erscheint das wenig wahrscheinlich. Der Name Etana wurde vielen Jungen gegeben, auch in eben dieser Variante „Ethan“, die in der Bibel noch mehrfach auftaucht.

Der Titel „König von Kisch“ war für spätere Herrscher erstrebenswert, weil mit ihm der Anspruch auf die Vorherrschaft im ganzen Lande verbunden war. Sie beriefen sich dabei auf die Königsliste.21aus Quelle 4. Diese Art der Legitimation der Herrschaft war über Jahrtausende effektiv. Noch die Königshäuser Europas führen ihr Amt auf Karl den Großen zurück. Ob Karl der Große eine reale Person war, wurde mit Heribert Illig auch schon einmal diskutiert.

 

15  Die Etymologie des Names E-ten-a verweist auf den Steppen- und Sonnengott Ten-gri, womit ein weiteres sprachliches Indiz vorliegt, dass die Sumerer von Norden nach Mesopotamien einfielen. Die sumerische Silbe En bei En-ten-a) bedeutet „König“, davon ist E die übliche Verkürzung.

16  Übersetzung aus Quelle 5.

17  Im Bild oben realistische Darstellung des Tempelvorstehers Abichil (Ebish-II). ca. 2400 (oder 2900-2685 nach Quelle 3) v.u.Z., Tempel der Ishtar (Inanna) in Mari. Louvre, Paris.

18  aus Quelle 6.

19  aus Quelle 4.

20  Zur Definition von ‚Stadt‘ siehe auf dieser Homepage.

21  aus Quelle 4.

6. Zwischen den Zeilen lesen - Eine Deutung

Der Mythos gibt meines Erachtens weitere Geheimnisse preis, wenn wir den Text im Detail betrachten. Möglicherweise lässt sich daraus eine ältere, oder gar die Urfassung rekonstruieren. Ich meine Textstellen, die nicht ganz stimmig sind, an denen wir daher zweifeln können, Textstellen, die nicht in allen Fassungen vorhanden sind und solche, die ganz harmlos daher kommen und hinter denen sich Abgründe auftun. Ich möchte drei exemplarisch herausgreifen.

Szene 1: Die Schlange und der Adler im Nest

Altbabylonisch:
Als alles empfing und alles gebar,
da gebar im Schatten der Pappel die Schlange,
(und) über ihr gebar der Adler.
(…)
Ein kleines Junges, überragend an Verstand,
an den Adler, seinen Vater, richtete es das Wort:
Mein Vater, friss nicht! … (aus: Quelle 1)

Mittelassyrisch:
Als in der Spitze des Baumes der Adler geboren hatte,
da gebar in der Wurzel der Pappel die Schlange.
(…)
Ein kleines Junges, überragend an Verstand,
richtete an den Adler, seinen Vater, das Wort: (…) (aus: Quelle 1)

Neuassyrisch:
Ein kleines Junges, überragend an Verstand, richtete an den Adler, seinen Vater, das Wort:
„Friss nicht, mein Vater! Das Netz des Shamash wird dich fangen!“ (aus: Quelle 1)

Die Szene von der Schlange und dem Adler, die zunächst in friedlicher Eintracht auf der Euphrat-Pappel leben, unterscheidet sich inhaltlich leicht aber nicht unbedeutend. Altbabylonisch und mittelassyrisch wird vom Gebären berichtet. Dann jedoch ändert der Adler das Geschlecht, er wird als Vater vorgestellt und frisst als solcher die Kinder der Schlange, der kein Geschlecht zugeordnet ist. In der neuassyrischen Fassung fehlt das Gebären, die Kinder sind auf einmal da. Der Adler jedoch wird erneut als Vater vorgestellt.

Der Menschheit war der Zusammenhang zwischen Zeugung und Geburt lange Zeit nicht bekannt. In matrifokalen Gemeinschaften, die die Ehe ja noch nicht praktizierten, war der leibliche Vater meist unbekannt. Möglicherweise gab es also in der Urfassung nicht die Unterscheidung zwischen Mutter und Vater, oder es waren mit Adler und Schlange zunächst zwei weibliche Wesen gemeint, wie in vielen Mythen am Anfang der Welt zwei weibliche Wesen stehen. Vielleicht spiegelt sich darin auch eine Vorstellung von der Einheit von Frau und Mann. Zur Urfassung könnte demnach nachträglich der Vater hinzugefügt worden sein, später wurde die Mutter (das Gebären) offensichtlich weggelassen.

Szene 2: Der Adler bettelt um Gnade

Altbabylonisch

Die Schlange tat ihren Mund auf und sprach zum Adler: „Aber ließe ich dich frei, wie soll ich droben Samas antworten? Deine Strafe würde sich gegen mich wenden!“ (aus: Quelle 1)

Neuassyrisch

Als er in das Innere (des Kadavers) eindrang, packte ihn die Schlange bei seinen Flügeln.(…) Der Adler tat seinen Mund auf und sprach zu der Schlange: „Hab‘ Gnade mit mir, dann will ich dir wie ein Bräutigam eine Ehegabe geben!“ Die Schlange (…) sprach zu dem Adler: „Ließe ich dich frei, wie sollte ich dann Shamash droben befriedigen? Deine Strafe würde sich gegen mich wenden, …“ (aus: Quelle 1)

Die Schlange glaubt, sie müsse Shamash zufrieden stellen und geht daher nicht auf den Vorschlag des Adlers ein. An dieser Stelle gibt es eine Ungereimtheit. Ist sie wirklich zur Rache verpflichtet, weil sie Shamash um Hilfe gebeten hat und er für sie einen Plan bereit hatte? Sie hat keinen Vertrag mit ihm geschlossen, wie sie es anfangs mit dem Adler getan hatte.
Die Schlange erweist sich als Persönlichkeit mit Charakter. Sie ist nicht nur eine gute Mutter, vertrauensvoll, hilfsbereit und fleißig, sondern loyal aber unkorrumpierbar. Dennoch hat auch ihre Geduld Grenzen, deshalb ist sie dem Adler gegenüber ohne Gnade und stellt Gerechtigkeit her. Sie tötet allerdings nicht nach dem semitischen Auge-um-Auge-Prinzip, sondern löst das Problem matrifokal sportlich: Sie wirft ihn in eine Grube, von der sie wohl weiß, dass er daraus gerettet werden kann. Sie bleibt, was sie war: Ein durch und durch friedliches Wesen. Anders als in der Bibel, wo der gute Ruf der Schlange schon auf den ersten Seiten für alle Zeiten beschädigt wird, wird sie im Etana-Mythos (noch) positiv dargestellt. In matrifokaler Zeit war die Schlange noch ein heiliges Tier. Zu verdanken hatte sie das ihrer Biologie. Die Häutung stand für Sterben und Wiedergeburt, unterstützt durch ihre Ähnlichkeit mit einer Spirale, die das gleiche Prinzip symbolisierte. Einleuchtend, dass sie in patriarchaler Zeit dämonisiert wurde.

Die „Ehegabe“ war eine Art Kaufpreis, den im frühen Patriarchat noch der Ehemann aufzubringen hatte, und für dessen Gegenwert die Braut ihre Fruchtbarkeit einzubringen hatte. Die Höhe konnte der Bräutigam festlegen, ob das Geschäft zustande kam, blieb jedoch der Familie der Braut überlassen. Im Falle seines Todes hätte der Erlös aus dieser Summe aber ihren Unterhalt gesichert. Im Text bietet der Adler der Schlange also die Ehe an, deren Vollzug im Eindringen in den Wildstier symbolisch vorweggenommen sein könnte. Dies ist vielleicht ein Hinweis darauf, dass die Schlange frei Verkehr haben konnte, also noch die Kontrolle über ihre Sexualität hatte, eine matrifokale Selbstverständlichkeit. Immerhin hat sie bereits Kinder, deren Vater aber ist unbekannt. Lebt er mit der Schlange in wilder Ehe, ist er schon tot? Hat sich die Schlange parthenogenetisch fortgepflanzt? Der Vater ist unbekannt, weil er in matrifokalen Gemeinschaften keine Bedeutung hat. In der Urfassung wird die Schlange die Ehe grundsätzlich ablehnt haben. Aber was ist mit der Frau des Adlers? Sie ist noch unwichtiger als Etanas Ehefrau, die dient gerade noch als Gefäß für Etanas dynastische Planung. Hat der Adler mit einem anderen Männchen die Adlerkinder gezeugt, so wie der Gott des Alten Testamentes es mit dem Adam tat? An dieser Stelle wird jedenfalls deutlich, dass die Schlange die alte matrifokale Lebensweise verkörpert, der Adler die neue patriarchale Gesellschaft.

Szene 3: Etana will Ishtar das Gebärkraut entreißen

Shamash erweist sich wahrlich nicht als würdig, von der Schlange verehrt zu werden. Der Richtergott ist nur Anwalt in eigener Sache. Er, der zunächst vorgibt, erbost zu sein, lässt sich vom heuchlerischen Adler überreden. Nicht aus Gnade, wir erfahren bald, warum: Shamash kann den Adler noch gebrauchen. Er soll Etana bei einer schwierigen Aufgabe helfen:

Neuassyrisch:

„Wir durchschritten den Toreingang Anus, Enlils und Eas, und gemeinsam warfen wir uns nieder, ich und du. Wir durchschritten den Toreingang Sins, Shamashs, Adads und Ishtars, und gemeinsam warfen wir uns nieder, ich und du. Ich sah ein Haus, öffnete sein Siegel, stieß ihre Tür auf und trat ein. Drinnen saß eine junge Frau, mit reiner Krone geschmückt und schön an Angesicht. Ein Thron war dort aufgestellt und eine Göttin aufgerichtet. Unterhalb des Throns lagerten Löwen.. Ich stand auf, da sprangen die Löwen mich an! ‚Ich wachte auf und erschrak …‘ Der Adler sprach zu ihm, zu Etana: ‚Mein Freund, dein Traum ist offensichtlich!‘ (…) Nachdem sie zum Himmel des Anu aufgestiegen waren, schritten sie durch das Tor des Anu, Enlil und Ea und gemeinsam warfen sich der Adler und Etana nieder. Sie schritten durch das Tor des Sin, Samas, Adad und der Ishtar, und gemeinsam warfen sich der Adler und Etana nieder. Er sah ein Haus, öffnete sein Siegel, stieß ihre Tür auf und trat ein.“ (aus: Quelle 1)

Etana träumt zunächst einen Traum, den er dem Adler erzählt. Der Adler schlägt Etana vor, den Traum in die Tat umzusetzen und so fliegen sie los, Etana auf dem Rücken des Adlers. Darauf folgt die berühmte Flugszene mit der Beschreibung der Welt aus der Vogelperspektive, in der Etana dreimal abgeworfen und wieder aufgefangen wird. In der altbabylonischen und mittelassyrischen Fassung erreicht Etana das Haus der Ishtar nicht und stürzt ab. Möglicherweise fehlt in der mittelassyrischen Fassung die Textpassage, denn das Ende ist beschädigt. Von der altbabylonischen Fassung fehlt möglicherweise eine Tafel.

Etana möchte (soll) bei Ishtar das Gebärkraut22Das Gebärkraut könnte auf dem Amulett (oben im Bild) abgebildet sein. „abholen“. Leider erfahren wir nicht, ob er es schafft; die letzte intakte Textzeile lässt ihn zumindest bei Ishtar ankommen. Wir erfahren, dass er gewaltsam in ihr Haus eindringt. Er öffnet das Siegel, wozu er sicher nicht befugt ist und stößt die Türe auf. Metaphorisch gesehen stellt die Szene eine Vergewaltigung der Göttin dar. Vergleichbar der Heiligen Hochzeit muss sich der König mit der Göttin vereinigen, um die Macht zu erringen. Der erste König der Welt hat das Privileg, die Göttin persönlich heimzusuchen, alle weiteren nehmen mit ihrer Stellvertreterin vorlieb. (In der Literatur23aus Quelle 1. gibt es auch den Übersetzungsvorschlag, Ishtar schaue aus dem Fenster, daher wird auch gemutmaßt, dass das Fenster ein Hinweis auf Tempelprostitution sei.) Doch wozu das Ganze? Warum händigt Ishtar das Gebärkraut nicht freiwillig aus, warum kommt sie ihm nicht entgegen, hat sie ihn doch als König eingesetzt? Hat sie etwa kein Interesse daran, dass Etana eine Dynastie gründet? Etanas Frau ist sicherlich nicht zufällig kinderlos. Warum ist die Dynastie ein so wichtiges Anliegen? Hat Ishtar Sorge, dass sie einen Diktator installiert? Die Sorge wäre nicht unberechtigt, wie die uns die spätere Geschichte lehrt. Oder möchte sie sicherstellen, dass auch Frauen künftig die Chance auf den Thron haben? Etanas Dynastie wird nicht die einzige bleiben und mit Kubaba24Kubaba war die große Göttin der Hurriter und Stadtgöttin von Karkami. wird in der zweiten Dynastie nach ihm eine Frau den Thron besteigen und große Bedeutung erlangen.

Zunächst jedoch wird Shamash, der Drahtzieher im Hintergrund, Ishtars Pläne durchkreuzen. Etana wird benutzt, um der Ishtar das Gebärkraut und damit die Macht abzunehmen. Sind wir hier Zeugen der Instrumentalisierung eines Menschen durch die Gottheit? Kommen wir in die Realität des Erzählers zurück, ist es andersherum: Die Geschichte dient der Rechtfertigung der geänderten Machtverhältnisse. In der älteren Fassung gilt die Tat noch als Frevel, daher stürzt Etana ab und erreicht sein Ziel nicht. Die jüngere Fassung vollendet den Plan. Der Sonnen- und Richtergott Shamash, fällt nicht nur der Schlange in den Rücken: Ishtar wird das Gebärkraut verlieren. Offenbar waren damals schon Recht haben und Recht bekommen zweierlei Dinge. Spinnen wir die Geschichte weiter, könnte der wenig vertrauenswürdige Shamash dem Etana das Kraut sogar abnehmen. Das wäre konsequent, aber politisch gesehen nicht notwendig. So wie die Geschichte endet, genügt sie dem Anspruch vollends: Die Intrige des Gottes rechtfertigt den männlichen Herrschaftsanspruch auf Erden.

 

22  Das Gebärkraut könnte auf dem Amulett (oben im Bild) abgebildet sein.

23  aus Quelle 1.

24  Kubaba war die große Göttin der Hurriter und Stadtgöttin von Karkami.

7. Einflüsse des Etana-Mythos

In verschiedenen Keilschrifttexten erscheint Etana in der Unterwelt oder wird als Unterweltgottheit angerufen. Wie Etana in die Unterwelt gelangt ist, ist unklar, es wurden darüber bisher keine Keilschriften gefunden. In Etana findet sich damit das Motiv des Vegetationsgottes wieder, der in frühpatriarchaler Zeit der Großen Göttin, die ursprünglich Herrscherin über den gesamten Lebenszyklus war, als Sohngeliebter zur Seite gestellt wurde. Er symbolisierte die absterbende Natur, die im Frühjahr auferstand. Der König nahm während der Heiligen Hochzeit seine Funktion an. Die Macht des Königs musste im Ritual jährlich bestätigt bzw. erneuert werden.

Etana erscheint noch einmal in einer spätakkadischen Fassung des sumerischen Gilgamesh-Epos, das mit seiner ältesten Fassung als älteste Aufzeichnung eines Mythos gilt. Im Text „Tod des Gilgamesch“ träumt Gilgameschs Wegbegleiter Enkidu von der Unterwelt:

„Wo ich eingetreten, im Hause des Erdstaubs,
Liegen am Boden die Königsmützen,
Die Fürsten, die Träger von Königsmützen,
Die seit der Vorzeit das Land beherrschten,
Die Stellvertreter von Anu und Enlil
Sie tragen auf gebratenes Fleisch,
Tragen Gebäck auf, kredenzen aus Schläuchen kühles Wasser.
Wo ich eingetreten im Hause des Erdstaubs,
Wohnen Hohepriester und Opferhelfer,
Wohnen Reinigungspriester, Geweihte,
Wohnen die gesalbten Priester der großen Götter,
Wohnt Etana, wohnt Sumukan,
Wohnt Ereschkigal, die Königin der Erde:
Beletßêri, die Schreiberin der Erde, kniet vor ihr,
Sie hält eine Schreibtafel und liest ihr vor.
Sie wandte ihr Haupt und erblickte mich
Da nahm sie diesen … hinweg.“25Aus Quelle 8. (Hervorh. v.d.V.)

In beiden Epen finden sich nun gleiche und verwandte Motive. Der Etana-Mythos beschreibt als erste Quelle eine Himmelfahrt. Diese Parallele zur Himmelfahrt Jesu ist beispielhaft für viele andere in die Bibel übernommene Motive aus Mythen des Zweistrom-Landes bzw. Kleinasien. Das christliche Fest Maria Himmelfahrt, auch „Frau-Tag“ genannt, geht ebenso auf das Motiv zurück. Maria Himmelfahrt wird auch als Kräuterweih (andere Namen sind Schnitterinnen oder Lammas) gefeiert. An diesem Tag werden sog. Buschen mit mindestens sieben heilkräftigen Kräutern geweiht, die v.a. auch gegen Unfruchtbarkeit wirken sollen. Maria darf auf päpstlichen Beschluss nicht Göttin sein. Kann ihr das nicht egal sein? Die Auferstehung des Etana als Vegetationsgott wurde ebenfalls auf Jesus projiziert.

Der Etana-Mythos lebt bis in die heutige Zeit nicht nur in der Bibel weiter. Unzählige Märchen aus ganz Europa, Vorderasien und sogar bei den Inuit Nordamerikas enthalten Etana-Motive. Die Sammlung dieser Märchen läßt eine lineare Ausbreitung über Vorderasien, Russland, Finnland bis nach Lappland26Aus Quelle 6. nachzeichnen. Hier werden die zahlenmäßig meisten Märchen erzählt. Es wurden Märchen gefunden, die noch wortwörtlich Teile des alten Textes, vor allem der Flugszene, enthalten. Märchen, die von einem Flug mit dem Adler27Im Bild oben zeigt der Abdruck eines Rollsiegels (Ausschnitt) Etanas Flug auf dem Adler. berichten, von helfenden Tieren oder sprechenden Schlangen, die von Menschen verstanden werden, etc. können daher als Etana-Märchen (Terminus Technicus) bezeichnet werden.

 

25  Aus Quelle 8.

26  Aus Quelle 6.

27 Im Bild oben zeigt der Abdruck eines Rollsiegels (Ausschnitt) Etanas Flug auf dem Adler.

8. Schlussbemerkung und Quellen

Darüber, ob Etana in der Urfassung sein Ziel erreicht oder nicht, wurde in der Vergangenheit hauptsächlich debattiert. Mit dem Wissen, dass sich in der Entwicklung der schriftlichen Aufzeichnungen des Mythos die Entwicklung der patriarchalischen Gesellschaft wiederspiegelt, können wir annehmen, dass dieser Teil als Zielvorgabe von Anfang an dazu gehörte. Der Raub des Gebärkrautes steht für die Aneignung der mütterlichen Gebärfähigkeit, mit der sich der Patriarch die Gebärmacht sichert. Es handelt sich um die zentrale Allmachtsphantasie des Patriarchats, wie ich es in meinem Buch „Der Gott im 9. Monat“ (2015) dargestellt habe.

Gerade mal 8000-6000 Jahre ist es her, dass sich der Übergang von Matrifokalität zu Patriarchat gewaltsam vollzog. Der Etana-Mythos ist ein wunderbares und selten unverblümtes Zeugnis dafür. Die friedliche, matrifokale Gemeinschaft aller Menschen wurde mit der Salamitaktik ausgehebelt, bis von unserer angeborenen, mütterlichen Moralität kaum noch etwas übrig geblieben war. Im Patriarchat sind Mord, Intrigen, Vorteilsnahme, Diebstahl und Sexualverbrechen bis heute an der Tagesordnung. Es ist auch eine Gesellschaft, in der die/der Ehrliche, Anständige immer der/die Dumme ist. In dieser Gesellschaft beten Frauen wie Männer einen männlichen Gott an, erst gezwungenermaßen dann vertrauensselig, wie die Schlange es tat; einen Gott, der menstruiert, gebiert, stillt.

Quellen

1. Das Etana-Epos – Ein Mythos von der Himmelfahrt des Königs von Kish. Von Michael Haul. Göttinger Arbeitshefte zur altorientalischen Literatur. Goettingen 2000.

2. Karakum, Geheimnisse der schwarzen Wüste. Fernsehdokumentation. Frankreich 2004.

3. Märchen aus Babylon. Mythen und Sagen des Zweistromlandes. Von Hans Wuessing. Frankfurt 1994.

4. Babylon. Stadt und Reich im Brennpunkt des Alten Orient. Von Joan Oates. Bergisch Gladbach 1983.

5. Sehnsucht nach Weltkultur: Grenzüberschreitung und Nichtung im zweiten ökumenischen Zeitalter. Dissertation von Reinhold Grether. Konstanz 1994.

6. Der Etanamythos in Finnland. Aufsatz von Haavio Martti. Helsinki 1955

7. wikipedia.org

8. Das Gilgamesch-Epos. Übersetzt von Albert Schott. Wolfram von Soden (Hrsg.). Reclam-Universal-Bibliothek, Stuttgart 1958/1988/2008

9. Der Gott im 9. Monat. Vom Ende der mütterlichen Gebärfähigkeit und dem Aufstieg der männlichen Gebärmacht in den Religionen der Welt. Von Gabriele Uhlmann. Norderstedt 2015

 

Bildzitate

Inhalt, Kapitel 1, 2, 3, 4, 6, 8 aus 2.
Kapitel 7 aus 1.
Kapitel 5 aus 7.

  • 1
    Im Bild oben zeigt der Abdruck eines Rollsiegels möglicherweise den Adler, der zwei Schlangenkinder gepackt hat.
  • 2
    Zum Stier-Symbol siehe Interpretationen im Referat zu Çatal Höyük auf dieser Homepage
  • 3
    Aus Quelle 1.
  • 4
    Aus Quelle 4. Zu Kubaba siehe auch Kapitel 6 unten sowie Die Spuren der Großen Göttin von Çatal auf dieser Homepage.
  • 5
    Die Abbildung oben bietet eine Vorstellung vom Grad der Zerstörung. Neuassyrische Tafel. 700 v.u.Z., Ninive. Original im Britischen Museum, London.
  • 6
    Die Abbildung oben zeigt eine von Zehntausenden weiblicher Statuetten, die die Muttergöttin darstellen.
  • 7
    Vergleiche dazu zur Funktion von Königslisten in Quelle 4, Seite 22 unten.
  • 8
    siehe dazu die Begriffsklärung auf dieser Homepage.
  • 9
    siehe Quelle 2.
  • 10
    Die Abbildung oben zeigt den oberen Teil einer Figurine dieses Typs.
  • 11
    Siehe hierzu im Text über Çatal-Höyük.
  • 12
    Siehe Abbildung Kapitel 8
  • 13
    Siehe Abbildung Inhalt
  • 14
    Siehe Abbildungen Kap. 1, 6, 7
  • 15
    Die Etymologie des Names E-ten-a verweist auf den Steppen- und Sonnengott Ten-gri, womit ein weiteres sprachliches Indiz vorliegt, dass die Sumerer von Norden nach Mesopotamien einfielen. Die sumerische Silbe En bei En-ten-a) bedeutet „König“, davon ist E die übliche Verkürzung.
  • 16
    Übersetzung aus Quelle 5.
  • 17
    Im Bild oben realistische Darstellung des Tempelvorstehers Abichil (Ebish-II). ca. 2400 (oder 2900-2685 nach Quelle 3) v.u.Z., Tempel der Ishtar (Inanna) in Mari. Louvre, Paris.
  • 18
    aus Quelle 6.
  • 19
    aus Quelle 4.
  • 20
    Zur Definition von ‚Stadt‘ siehe auf dieser Homepage.
  • 21
    aus Quelle 4.
  • 22
    Das Gebärkraut könnte auf dem Amulett (oben im Bild) abgebildet sein.
  • 23
    aus Quelle 1.
  • 24
    Kubaba war die große Göttin der Hurriter und Stadtgöttin von Karkami.
  • 25
    Aus Quelle 8.
  • 26
    Aus Quelle 6.
  • 27
    Im Bild oben zeigt der Abdruck eines Rollsiegels (Ausschnitt) Etanas Flug auf dem Adler.