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Das Wachtelexperiment oder der Mythos von der Hackordnung

By 16. Oktober 2022No Comments
Weibliche Wachtel (Coturnix coturnix), Bildquelle: Wikimedia commons, user: Mnolf



Bild: Weibliche Wachtel (Coturnix coturnix)
Bildquelle: Wikimedia commons, user: Mnolf

Prolog

Hobby-Geflügelhalter Ingo[1] schrieb vor einiger Zeit in ein Soziales Medium, dass es ja Menschen gäbe, die nicht viel denken, und er finde, es sei bei den Wachteln kaum besser. Dies sei seine Weisheit des Tages.

Ich wurde darauf aufmerksam, weil mir immer wieder Mensch/Tier-Vergleiche auffallen, wenn z.B. in einer Tier-Doku vom Hirschen die Rede ist, der „auf dem Platz als Chef seinen Harem zusammen hält“, wenn „das Silberrückenmännchen als Patriarch die Gorilla-Gruppe beherrscht“ oder auch „die Störche sich ein Leben lang treu bleiben“. Die Herstellung solcher Analogien dient leider viel zu oft der Rechtfertigung unseres eigenen Verhaltens. Die Projektionen von Mensch auf Tier und umgekehrt sind immer falsch. Wie sollen sie auch richtig sein, kennen doch die weitaus meisten Dokumentatoren, Journalisten und auch Naturwissenschaftler nicht einmal mehr unser eigenes natürliches Verhalten (Vgl. Uhlmann 2015).

Es ging Ingo aber erstmal um die „Dummheit der Tiere“, insbesondere der Wachteln. In meiner Gewissheit, dass Tiere zwar nicht lesen und schreiben können, aber trotzdem weise sind, nämlich der Weisheit von Mutter Natur folgen, erhob ich stellvertretend für die Wachteln, die übrigens zu den Hühnervögeln gehören, spontan Einspruch und schrieb, dass ich der „Weisheit des Tages“ leider nicht zustimmen könne. Immerhin haben Wachteln nie irgendeine Gehirnwäsche durchlaufen und können sich noch auf ihren gesunden Wachtelverstand verlassen. Sie unterdrücken sich nicht, haben nie Kriege angezettelt und zerstören nicht die Umwelt. Denn Tiere leben nicht im Patriarchat, – und der Mensch nebenbei gesagt von Natur aus auch nicht, hätte er sich nicht vom technischen Fortschritt abhängig gemacht, um dann dessen Opfer bzw. Opfer der eigenen Intelligenz zu werden.

Ich finde, wir können uns an den Wachteln ein Beispiel nehmen und an allen anderen Tieren natürlich auch. Nein, der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung.

Ingo meinte darauf, dass das, was sein Wachtelhahn mit den Hennen mache, schon etwas von Unterdrückung hätte. Auf Nachfrage schrieb er: „Er hackt ihnen in den Nacken (Hackordnung!), was teilweise zu üblen Wunden führt.“

Dass ein Hahn so etwas macht, hatte ich noch nie gehört. Ingos Hinweis in Klammern auf die Hackordnung kam mir daher spanisch vor. In meiner Erinnerung gilt sie allgemein vor allem für die Hennen, während Hähne für Kämpfe bekannt sind. Ich halte keine Hühner, aber das knuffige Geflügel war mir schon immer sehr sympathisch. Dass sie notorisch gewalttätig sein sollen, habe ich nie so erkennen können, wann immer ich freilaufende Hühner sah. Das bestätigt auch ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung online über Hühner in Gefangenschaft, der eine das Gruseln lehrt:

“Zu Hühnerkannibalismus kommt es vor allem bei der Bodenhaltung. Wenn Hühner dort ihre Eier nicht im Schutz von abgedunkelten Nestern legen können, müssen sie sich direkt nach dem Legen wieder unter ihren Artgenossen tummeln. ‚Die Kloake der Tiere ist dann noch ausgestülpt und zieht mit ihrem roten Glanz die Aufmerksamkeit anderer Tiere auf sich’, beschreibt Aigner (ein professioneller Hühnerhalter) den Auftakt zu einem blutrünstigen Schauspiel. Andere Hühner picken dann auf die Henne ein. Sobald der erste Tropfen Blut erscheint, geraten die Tiere in einen wahren Blutrausch.“ (Fischer 2010, S.2)

Die sog. Hackordnung kannte ich schon aus dem Biologieunterricht der 5. Klasse. Der Lehrer zeigte uns damals Bilder von fast federlosen Hennen und von kämpfenden Hähnen. Derart zugerichtete Exemplare habe ich bei wild lebenden Hühnern in Naturfilmen aber nie gesehen. Dass das Phänomen irgendwie menschengemacht sein muss, wurde mir erst nach der Klassenarbeit klar, in der eine Fangfrage lautete, wieviele Hähne sich auf einem Hühnerhof befänden, wozu wir eine Begründung unserer Antwort schreiben sollten. Ich schrieb, dass es zwei sein müssten, damit die Hähne miteinander kämpfen können. Da „artgerechte Haltung“ damals in den Siebzigern noch nicht in Mode war, bekam ich dafür null Punkte. Ich bin jetzt 53, erinnere mich aber, als wäre es gestern gewesen, weil Biologie zu meinen Lieblingsfächern gehörte und ich mich sehr über den Lehrer geärgert habe. Ich finde noch heute, dass das vor allem eine pädagogische Null-Leistung war. Mittlerweile glaube ich, dass er auch keine Ahnung hatte, was es wirklich mit der Hackordnung auf sich hat.

Hackordnung? Können wir das wirklich sehen?

Ingos Wachtel-Problem nahm ich nun nach all den Jahren zum Anlass intensiver Recherche. Dass die sog. Hackordnung erst in den Neunzehnhundertzwanziger Jahren von dem norwegischen Forscher Thorleif Schjelderup-Ebbe (1894-1976) beschrieben wurde, zeigt mir, dass dieses Verhalten tatsächlich gar nicht so offensichtlich ist, wie es scheint. Seit seine These in den Fünfziger Jahren allgemein verbreitet wurde, glaubten Menschen plötzlich überall, eine Hackordnung bei ihren Hühnern erkennen zu können. Das Wort Hackordnung wurde sogar zu einem Synonym für die Hierarchie in der menschlichen Gesellschaft. Die Menschen sehen, was sie sehen wollen. Ein schönes Beispiel dafür ist dieser Film:

Video veröffentlicht von bettelhuhn am 16.04.2010 auf youtube.de

Es gibt aber auch leise Kritik am „Modell der Hackordnung“ wie in diesem Forum: http://www.huehner-info.de/forum/showthread.php/73375-Kritik-am-Modell-der-Hackordnung

Tatsachlich hacken sich wilde Hühner praktisch nicht. Sie picken auf dem Boden nach Nahrung, brüten, glucken, reinigen ihr Gefieder im Staub oder ruhen sich aus. Werden allerdings fremde Hühner in eine Horde (auch Schar oder Herde) gesetzt, gibt es ordentlich Streit, aber das ist menschengemacht. In der Paarungszeit kämpfen die Hähne, um den Weibchen ihre Potenz zu demonstrieren, wie bei vielen anderen Arten auch. Wenn überhaupt, gibt es unter den Hennen Streit ums Futter oder einen Platz im Sandbad. Dabei bleibt es meist bei einem „auf das konkurrierende Tier losgehen“, um es zu verscheuchen. Manchmal wird nach ihm der Kopf gereckt, was wie Picken aussieht, oft ist es nur es Drängeln und Schubsen. Im Englischen heißt es auch nicht „Hackordnung“, wie sie von Schjelderup-Ebbe während seiner Zeit in Deutschland in den Dreißiger Jahren selbst genannt wurde, sondern Pick-Ordnung (pecking order statt hacking order). Eigentlich muss es „Scheuchen“ oder „Drängeln“ heißen. Ein Video zeigt das Verhalten, das beileibe nicht so dramatisch ist, wie der Name „Hackordnung“ suggeriert.

Video veröffentlicht von HenDaisy am 10.05.2011 auf youtube.de

Was in der Allgemeinheit nicht angekommen ist, auch nicht in der gymnasialen Lehre, ist eine andere wichtige Beobachtung Schjelderup-Ebbes, nämlich, dass das Scheuchen und Drängeln von den Haushühnern nicht konsequent nach einer feststehenden Ordnung betrieben wird. Der Forscher will z.B. Dreiecksbildungen beobachtet haben. Danach „hackte“ Huhn A das Huhn B, welches Huhn C „hackte“, das wiederum Huhn A „hackte“. Bei den meisten belesenen Hühnerhaltern und -züchtern ist diese These bekannt, und sie behaupten, das beobachten zu können. Sie berichten aber auch, dass die Unruhe davon abhinge, welche Tiere gerade an einem Platz versammelt sind. Zudem änderten sich die Verhältnisse unter den Tieren immer wieder mal. Hühnerhalter beobachten auch, dass Hühner ein und desselben Geleges bestens miteinander auskommen. Und trotzdem ziehen die Hühnerexperten nicht die richtigen Schlüsse, denn das Dogma Hackordnung scheint beinahe unumstößlich.

Das Dogma führt zu vielen Fragezeichen, weshalb widersprüchliche Informationen verbreitet werden wie in diesem Beispiel:

„Wie bereits erwähnt, bestehen oftmals zwischen Alt- und Junghennen erhebliche Unterschiede. Althennen treten viel selbstbewusster in der neuen Herde auf. Unter den Hähnen ist die Machtstellung noch betonter als bei den Hennen, da die Vorrechte des Hahnes noch größer sind. Sind mehrere Hähne in einer Herde, ist die Rangfolge in der Regel auch immer linear, d.h. A zu B zu C usw..

Das ist sehr bedeutend. Verliert ein dominanter Hahn aus irgendeinem Grund seine Stellung, kann das oft dazu führen, dass dieser Hahn nicht nur in der Rangordnung einen Platz weiter hinten einnehmen muss. sondern dass es sogar dazu kommt, dass dieser anschließend erkrankt.

Im Zuchtstamm nimmt der Hahn unter natürlichen Bedingungen den ersten Rang ein. Ihm fügen sich die Hennen. Während der Fortpflanzungzeit, d. h. fast das gesamte Jahr macht der Hahn aber von seinem Hackrecht nicht Gebrauch. In der Mauser ist es anders. Da hackt er auch die Hennen vom Futter weg. Vielleicht ist dies auch ein Regelmechanismus, da der Hahn sehr viel neues Gefieder zu bilden und Körpersubstanzen aufzubauen hat.“ (Golze 2007, S. 13; meine Hervorhebung)

Kritik an der Projektion menschlichen Machtdenkens auf die Tierwelt äußerte schon in den Neunzehnhundertsiebziger Jahren die sog. Kritische Psychologie[2]:

„(…) in den Ausführungen über Dominanz werden Beobachtungen an domestizierten Tieren und wildlebenden Tieren meist undifferenziert zusammengeworfen, ja, die Resultate von Untersuchungen an domestizierten Tieren haben sogar zu den grundsätzlichen Modellvorstellungen geführt, unter denen seitdem Dominanz-Subordinanz-Beziehungen überhaupt betrachtet werden. Richtungsbestimmend waren hier die Pionier-Untersuchungen von SCHJELDERUP-EBBE (von 1922 an) über das Rangordnungsverhalten am Haushuhn, die die Konzeption der ‚Hackordnung’ erbrachten und eine Vielzahl weiterer Untersuchungen an Hühnern nach sich zogen, wodurch die Vorstellungen über Eigenart und Bedeutung der Dominanz im allgemeinen maßgeblich geprägt wurden.

Verallgemeinerungen von domestizierten Tieren auf wildlebende Tiere im Hinblick auf das Verhältnis Dominanz-Führerschaft erscheinen uns indessen weitgehend unzulässig.“ (Holzkamp-Osterkamp 1981, S. 172)

Als häufigste Argumente, warum dagegen die Hackordnung biologisch unbedingt sinnvoll sein müsse, fand ich:

1. Die Hackordnung sorge für soziale Ruhe in der Hühnerhorde.

2. Die Hackordnung lege eine Rangordnung fest und ranghohe Tiere übernähmen Aufgaben.

3. Die Hackordnung sichere den Fortbestand der Art.

Diese Argumente wirken erst einmal wie Totschlagargumente; aber was ist davon wirklich zu halten? Im Einzelnen:

1. Dass die sog. Hackordnung für soziale Ruhe sorge, ist ein Zirkelschluss, denn es wird ja vorausgesetzt, dass die sog. Hackordnung permant ausgetragen wird, ja geradezu archetypisch für die Hühnerhorde sei. Damit verbreitet sie selbst „Unruhe“. Es handelt sich also nicht einmal um Ordnung, sondern um Unordnung. Es würde „die Ruhe“ weniger stören, wenn sich die Hühner immer gegenseitig den Vortritt ließen oder sich anstellen würden, bis sie an der Reihe sind. Wir kennen das ja von der englischen Bushaltstelle. Wer zuerst da ist, steigt zuerst ein, ohne deshalb ein besserer Mensch zu sein. In Deutschland herrscht immer Gedränge, auch ohne dass dabei eine Rangordnung ausgehandelt würde. Wer zuerst eingestiegen ist, steigt nicht automatisch zuerst aus. Die Hühner probieren es immer wieder, jedes Tier ist erst einmal egoistisch. Sie akzeptieren keine Rangodnung am Futternapf, sondern stellen die Dominanz ständig infrage. Als Ausnahme von der Regel weichen manche Hühner dennoch schon von selbst, wenn sie ein bestimmtes Huhn heran nahen sehen. Aber das muss nichts mit Rang zu tun haben, sondern ist vor allem ein Lernprozess. Die Tiere kennen sich ja und wissen das Aggressionspotential des anderen Tieres einzuschätzen.

Die Ruhe wird nicht von einer Rangordnung oder Dominanz durchgesetzt, sondern sie herrscht dann, wenn der Anlass für Unruhe fehlt, z.B. die Fütterung. Damit kommen wir automatisch zu Argument 2.

2. Die Hackordnung lege eine Rangordnung fest und ranghohe Tiere übernähmen Aufgaben.

Die Kritische Psychologie erklärt, warum das so unhaltbar ist:

“Eine im Vergleich zur Dominanz weit weniger gründlich untersuchte Form gelernter Komplementärbeziehungen ist die sog. ‚Führerschaft’; von Führerschaft in reiner Form spricht man dann, wenn in einem Verband ein individuelles Tier eine Reihe von ‚Verpflichtungen’ (‚Obligationen’) übernimmt, ohne die entsprechenden Privilegien, wie sie als für die Dominanzordnung charakteristisch angesehen werden, zu haben. Faktisch ist die Führerschaft meist als ‚Anführerschaft‘ eines Verbandes bei der Raumorientierung, auch bei Angriff oder Flucht, untersucht worden; als ‚Führer‘ wurde dabei meist jenes Tier bezeichnet, das eine bestimmte räumliche Position einnimmt, sich nämlich an der Spitze eines sich bewegen den Verbandes befindet. Jedoch sind, wenn auch seltener, andere Momente der ‚Führerschaft’, wie der Schutz des Verbandes o.ä. hervor gehoben worden; die ‚Führer‘ haben häufig die Funktion von ‚Vorbildern’ oder ‚Modellen’ beim Aufsuchen oder Vermeiden bestimmter Gegebenheiten etc. (…) Über die Art und Weise, in der die Tiere zu ihrer ‚Führungsposition‘ gelangen, also über Positionsbestimmungen mit der gleichen Funktion wie die Rangkämpfe bei den Dominanzordnungen, ist in Untersuchungsberichten kaum etwas zu finden. Lediglich über artspezifische Geschlechtsgebundenheit der Führerschaft werden Aussagen gemacht: Bei vielen Arten können nur Tiere eines Geschlechts Führungspositionen übernehmen; so führen bei Haustauben, vielen Affen, Wildpferden usw. männliche Tiere, bei Rotwild, Gemsen, afrikanischen Elefanten usw. weibliche Tiere den Zug oder die Herde an (…). – Hinsichtlich der Gliederungsform der durch ‚Führerschaft‘ charakterisierten Verbände wird nicht viel mehr gesagt, als daß solche Verbände flexibler seien als Organisationen, die auf Grund von Dominanz-Subordinanz organisiert sind. – Mit Bezug auf den biologischen Sinn der Führerschaft wird z.B. auf den integrierenden, die Effektivität bestimmter biologisch notwendiger Leistungen des sozialen Verbandes erhöhenden Einfluß der Führerschaft hingewiesen (…) Sehr vieles spricht dafür, daß das Phänomen der ‚Führerschaft‘ in der Forschung zu Unrecht vernachlässigt, die Bedeutung der Dominanz dagegen weit überschätzt wird (…). Als Grund dafür wird etwa angegeben, daß Dominanzverhalten leicht bei im Käfig gehaltenen Tieren untersucht werden kann, Führerschaftsverhalten dagegen nur in der natürlichen Umwelt der Tiere (…). Führerschaft kann nur auftreten, wenn ein Tierverband unter natürlichen Lebensbedingungen bestimmte Aktivitäten im Funktionskreis der Lebenssicherung, etwa der Raumorientierung, des Schutzes, des Angriffs, der Flucht, der Verteidigung vollzieht, nicht aber, wenn der Verband im Käfig von all diesen Aktivitäten abgeschnitten ist. In der Gefangenschaft sind die Tiere quasi auf die Rivalität und die daraus sich ergebenden Verhaltensweisen ‚zurückgeworfen‘; in den hier entstehenden ‚Zwangssozietäten‘ ist demnach Dominanz-Subordinanz die einzige ‚übrigbleibende’ Organisationsform.“ (Holzkamp-Osterkamp 1981, S. 171 f.)

Kurz gesagt, Stärke hat nichts mit Weisheit zu tun und ist deshalb als Kriterium für die Rangordnung ungeeignet. Jedenfalls bei den Tieren. Es sind die erfahrenen Tiere und Tiere eines bestimmten Geschlechts, die die Leitung übernehmen, und die anderen nehmen das so hin. Nicht Egoismus allein, sondern Altruismus gepaart mit Egoismus halten die Gruppe am Leben. Ohne sie kann auch das Individuum nicht überleben.

Die Rangordnung der Hühnervögel ist weder rein linear noch pyramidenförmig. Hähne und Hennen bilden die beiden Untergruppen. Innerhalb der Hennen ist immer eine ältere Henne, die erfahren genug und noch „rüstig“ ist, das Leittier. Bei den Hähnen kommt es auf die Kraft im Hahnenkampf an und oft ist der Sieger auch der älteste. Den „stolzen Hahn“ gibt es aber nicht. Manchmal werden Hühner beobachtet, die gemeinsam einen „dreisten Junghahn“ traktieren. Dass die Hähne in der Hack- resp. Rangordnung noch über den Hennen stehen, ist so nicht haltbar. Dies ergibt sich auch aus der Betrachtung von Argument 3:

3. „Die Hackordnung sichert die Erhaltung der Art“ ist ein besonders hartnäckiger Allgemeinplatz angelehnt an Darwins Evolutionslehre. So soll die Beobachtung, dass „stärkere“ Hühner oft mehr Nachwuchs haben, Darwins „Survival of the Fittest“ auch veranschaulichen. Aber der Lehrsatz, den Darwin so gar nicht gemeint hat, hat sich überholt. Wir wissen heute, dass einfach die Angepassten überleben und diese müssen nicht einmal die Angepasstesten sein (Vgl. Maturana/Varela 1987, S. 125). Drei Fragen am Beispiel der Hühner zeigen, warum die These der Arterhaltung schließlich aufgegeben wurde: Warum verändern sich die Arten über die Jahrzehntausende, obwohl die Perfektesten für den Arterhalt verantwortlich sein sollen? Warum legen Hühner vermeintlich niederen Ranges trotzdem Eier und brüten erfolgreich? Warum ändert sich die vermeintliche Rangordnung, wo doch die Genetik jedes Individuums gleich bleibt?

Das Scheuchen und Drängeln unter den Hühnern hat ganz andere Gründe als die Arterhaltung. Es tritt nicht umsonst vermehrt an Futterplätzen auf. Hühner, die mehr Eier legen, brauchen mehr Energie, d.h. sie haben mehr Hunger. Wir alle wissen es und Ärzte können es bestätigen: Hunger macht aggressiv. Dieses Verhalten wurde evolutionär selektiert, denn wer Hunger hat und sich nicht um Nahrung bemüht, wird verhungern. Bei knapper Nahrung muss der Antrieb immer größer werden. Das führt unter Umständen dazu, dass ein Lebewesen seinen Artgenossen Nahrung stiehlt oder sie vom Futter verdrängt, was sehr gierig wirken kann. Hungrige Lebewesen drängeln sich vor, weil sie mehr brauchen, und können daher auch dominanter wirken, was manche dann für „Stärke“ halten. Wenn sich ein Huhn nicht sofort auf das Futter stürzt, könnte man meinen, es stünde in der Hackordnung ganz unten. Dass es weniger Hunger haben könnte, wird dabei gar nicht in Betracht gezogen.

Hühner, die sich gut vordrängeln können, legen deshalb nicht mehr Eier. Es ist umgekehrt, Ursache und Wirkung wurden vertauscht. Denn die Legepotenz ist angeboren. Es handelt sich um eine individuell unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit, die genetisch verankert ist und daher durch Zucht gesteigert werden kann (vgl. Vieweg 2017). In der Hühnerhorde brüten alle halbwegs gesunden Hühner, unabhängig davon, wie dominant sie wirken. Sonst würde die Haltung weniger dominanter Hühner auch nur sinnloses Geld kosten.

Auch das Sandbad werde gerne von der ranghöchsten Henne besetzt, so las ich es im Internet. Das feste Sandbad ist eine Erfindung der Hühnerhaltung und ein Sandbad, das nur eine Henne fasst, ist eindeutig zu klein bemessen. Zwar ist es richtig, dass Hühner auch in der freien Natur Sandbäder lieben, aber das Vergnügen ist nicht der evolutionäre Grund und sie suchen sich immer neue Sandbäder. Das Sandbad befreit von juckenden Parasiten. Wie der Hunger macht auch Juckreiz aggressiv und natürlich lässt sich ein Huhn mit quälendem Juckreiz ungern aus dem Sandbad vertreiben: Es hat einen guten Grund, seinen Platz zu verteidigen.

Haushühner beim Sandbad

Haushühner (Gallus gallus) beim Sandbad, Bildquelle: wikimedia commons, user: Sini Merikallio

Der Hahn bzw. die Hähne stünden in der Hackordnung ganz oben, habe ich ebenfalls sehr oft gelesen. Evolutionär wäre es allerdings wenig sinnvoll, würde der Hahn alle Hühner vom Futterplatz verdrängen, wie ein Patriarch in Arabien, der seine Frauen als Letzte essen lässt. Und tatsächlich, der Hahn ist fast immer als Letzter dran. Wenn die Hühner in der Eibildungsphase sind und das ist die meiste Zeit, haben sie mehr Hunger. Patriarchen machen daraus gönnerhaft: „er lässt ihnen den Vortritt“. Wenn er in der Mauser ist, braucht allerdings auch er deutlich mehr Energie, so dass er sich vordrängelt. Das ahnen wie oben gesehen mittlerweile die Geflügelzüchter.

Welches Huhn am Ende aller Tage die meisten Nachkommen haben wird, steht in den Sternen. Aber es wird aus der falsch verstandenen Evolutionslehre Legitimation für politische Hierarchie und Führerschaft gezogen. Legitimiert wird damit nichts anderes als das menschliche Patriarchat.

Der stolze Hahn, Öl auf Leinwand. 91,5 x 80 cm. Von Melchior d'Hondecoeter (1636–1695)

„Der stolze Hahn“, Öl auf Leinwand. 91,5 x 80 cm. Von Melchior d’Hondecoeter (1636–1695)

Wachteln emanzipieren sich nicht, sie leben ihr eigenes Leben

Ingo dachte an die sog. Hackordnung, als sein Hahn die Hühner traktierte. Dass es das nicht sein konnte, ahnte ich schon während der Unterhaltung, denn Drängeln und Scheuchen erfüllt seinen Zweck vollkommen, dies ohne Brutalität. „Naja, ich meine, wie soll sich ein Tier in Gefangenschaft psychisch gesund verhalten? In der freien Natur würden sich die Hühner das sowieso nicht bieten lassen“, schrieb ich zurück. Und ich dachte darüber nach, dass wir, die wir uns alle in einem Zwangssystem befinden, Gefangene sind. Ich hatte auch schon eine Idee, wo das Problem liegt, denn meiner Erfahrung nach ist es immer das Gleiche, was Menschen nicht berücksichtigen: die female choice.

Ich öffnete eben schnell wikipedia mit dem Stichwort „Wachtel“ und fand sofort das Erwartete: „Wachteln sind polygam. Jedes Männchen verpaart sich mit jedem beliebigen Weibchen, das das Männchen aufsucht und lockt. Wirbt ein Weibchen gleichzeitig um mehrere Männchen, kann es unter den Männchen auch zu Kämpfen kommen.“ Das postete ich ins Soziale Medium, nicht ohne es mit den Fakten über die sexuelle Selektion, die mit der female choice identisch ist, zu verlinken und zu kommentieren: „Die Gefangenschaft unterdrückt die female choice der Wachtelhühner. Die female choice ist der Garant für und das Geheimnis des friedlichen Zusammenlebens aller Lebewesen. Wobei der Hahnenkampf kein Krieg ist, sondern Teil der Selektion.“ Ich schlug vor, noch weitere Wachtelhähne in das Gehege zu setzen.

Leider habe ich nie erfahren, ob das Problem gelöst werden konnte.

Die Angelegenheit begann, mich über die sog. Hackordnung hinaus zu interessieren. Ich fand in den Texten, dass sich Wachtel-Experten darin einig sind, dass Wachtelweibchen die Wählenden sind, nicht monogam leben und die Hähne sich nicht an der Brut beteiligen. Gemäß der evolutionären female choice hatte ich auch nicht erwartet, dass der Hahn das Vorrecht der Wahl hat.

Besonders interessant ist, dass die Wachtelhühner sich auch auf das Urteil von Kolleginnen verlassen und sich mit dem Hahn paaren, der sich eben mit einer anderen Henne gepaart hatte.

“Seit kurzem ist bekannt, daß Weibchen manchmal auch eine ganz andere Strategie anwenden. Statt selbst einen Partner auszusuchen, kopieren sie die Wahl anderer Weibchen. Ein solches Weibchen beobachtet ein anderes Weibchen bei der Partnerwahl und kopuliert anschließend mit demselben Männchen. Es ‚verläßt sich‘ somit auf das ‚Urteilsvermögen‘ des anderen Weibchens. Das Kopieren ist inzwischen bei drei Fischarten nachgewiesen, beim Guppy (Poecilia reticulata), beim Japanischen Medaka (Oryzias latipes) und beim Breitflossenkärpfling (Poecilia latipinna, Abb. unten), zudem aber auch bei drei Vogelarten, beim Birkhuhn (Tetrao tetrix, Abb. links), beim Wermutshuhn (Centrocercus urophasianus) und bei der Japanischen Wachtel (Corturnix coturnix). Es handelt sich bei diesen Vögeln ausschließlich um Arten, bei denen sich das Männchen an der Brutpflege nicht beteiligt.“ (Witte 1999, S. 47)

Danach ist die female choice also nicht nur die Sache eines Weibchens, sondern auch der Kooperation der Weibchen, etwas, was wir für die sich angeblich ständig hackenden Hühner gar nicht erwarten würden. In gewisser Hinsicht ähnelt das Sexualverhalten der Gemeinen Wachtel tatsächlich dem von uns Menschen. Dieses Kopierverhalten beobachte ich auch bei uns Frauen. Fast jede Frau kennt eine, die ihr den Partner auszuspannen versuchte.

Wie wir sind Wachteln von Natur aus nicht monogam und auch die Väter haben kein angeborenes Interesse an ihrem leiblichen Nachwuchs. Dennoch können wir nicht 1:1 projizieren. Die leiblichen Menschenväter leben natürlicher Weise nicht mit in der Sippe und die Mütter sind auf die Hilfe der Großmutter, Schwestern und Brüder angewiesen. (vgl. Blaffer Hrdy 2010) Aber wie könnte es anders sein, obwohl die leiblichen Wachtelväter mit in der Gruppe leben, ist es ihnen völlig egal, welche ihre Kinder sind, und sie beteiligen sich nicht an der Brutpflege. Dass ein Hahn mit mehreren Nestern gleichzeitig überfordert sein muss, ist ja auch sonnenklar. Aber die Wissenschaft scheint das zu wundern und bemerkt es als Phänomen.

Die Wacheln machen, was sie wollen, und die Weibchen sind auch hier die Regisseurinnen der Sexualität (vgl. Prum 2017). Sie verhalten sich genauso wenig nach Lehrbuch, wie die Haushühner. In einer von einem spanischen Team beobachteten wilden Population zeigten die Tiere individuelles Verhalten.

„57% of the females studied (n = 14) showed mate-switching, whereas 22% of the males were serially polygynous, successively forming pairs with a series of females. The fitness of females with mate-switching, measured in terms of clutch size and hatching success, did not differ from that of females bonded with one male.“ (Rodríguez-Teijeiro et al. 2003, S. 291)

Am Rande gesagt: Das „Mate-switching“ (engl. „Wechsel des Sexual-Partners“), die Polygamie der Weibchen (Polyandrie) ist das Komplement zur Polygamie der Männchen (Polygynie). Polygamie bedeutet bei Tieren aber nicht einseitigen Zwang des anderen Geschlechts zur Monogamie, wie es polygame Patriarchen mit der Hochzeit durchsetzen!

Indem Ingo die Wachtelhennen zur Monogamie gezwungen hat, hat er im Gehege das Patriarchat eingeführt, in diesem Fall ein polygynes Patriarchat. Den Hühnern fehlte nun die Auswahl und der Hahn hatte keine Konkurrenz mehr, was sicherlich auch zu seiner Überforderung geführt hat. Er zeigt nun übersteigertes Dominanzverhalten und wird so frauenfeindlich wie es Patriarchen nun einmal sind.

Wehe, Frauen lernen von den Wachtelhühnern!

Bei Wikipedia überraschte mich die Mitteilung: „Das Fleisch der Wachtel (Coturnix coturnix) kann unter bestimmten Bedingungen giftig sein. Grund hierfür dürfte sein, dass sich Wachteln von Pflanzen ernähren, die für den Menschen, nicht jedoch für die Wachtel selber giftig sind. Um welche Pflanzen es sich genau handelt, ist ungeklärt. (…) Die Vergiftung durch Wachtelfleisch wird schon in der Bibel beschrieben (siehe Num 11,31-34)“

Der angeführte Bibeltext liest sich wie folgt:

Num 11,29 Doch Mose sagte zu ihm (Josua): Willst du dich für mich ereifern? Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu Propheten würde, wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte!

Num 11,30 Dann ging Mose mit den Ältesten Israels in das Lager zurück.

Num 11,31 Darauf brach ein Wind los, den der Herr geschickt hatte, und trieb Wachteln vom Meer heran. Er warf sie auf das Lager, einen Tagesmarsch weit in der einen Richtung und einen Tagesmarsch weit in der anderen Richtung rings um das Lager; zwei Ellen hoch lagen sie auf dem Erdboden.

Num 11,32 Da stand das Volk auf und sammelte die Wachteln ein, den ganzen Tag und die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag. Jeder sammelte mindestens zehn Hómer. Sie legten sie rings um das Lager zum Dörren aus.

Num 11,33 Sie hatten aber das Fleisch noch zwischen den Zähnen, es war noch nicht gegessen, da entbrannte der Zorn des Herrn über das Volk und der Herr schlug das Volk mit einer bösen Plage.

Num 11,34 Daher nannte man den Ort Kibrot-Taawa (Giergräber), da man dort die Leute begrub, die von der Gier gepackt worden waren.

Quelle: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/num11.html

Belege für die Giftigkeit der Wachtel sind wenige Papers von griechischen und türkischen Autoren. Die Griechen (Tsironi et al. 2004) raten lediglich, in bestimmten Notfällen an die Wachtelgiftigkeit zu denken, die in mediterranen Gebieten beobachtet werde und nennen als Beispiel die Bibel! Der Grieche Theodore Ouzounellis stützt sich auf seine Beobachtungen, die wir aber online nicht nachlesen dürfen. http://jamanetwork.com/journals/jama/article-abstract/352148
Die Türkische Ärztegruppe (vgl. Korkmaz et al. 2011) erwähnt, dass Wachteln giftig werden, wenn sie Schierlingssamen fressen, dies auf dem Durchzug von Norden nach Süden. Die Wachtel-Vergiftung wird Coturnismus genannt, nach dem lateinischen Namen für die Gemeine Wachtel, Coturnix coturnix. Sie ist selten und verursacht eine Auflösung quergestreifter Muskelfasern (Rhabdomyolyse) und Nierenversagen. Das Schierlingsgift, das für die Wachtel unschädlich ist, gelangt in das Muskelfleisch. Erst so kann der Verzehr einer Wachtel lebensgefährlich werden. Ansonsten ist die Wachtel harmlos, und wird ja auch zum Verzehr in Gehegen gehalten, wo sie natürlich nicht mit Schierlingssamen gefüttert wird.

Der Mythos von der grundsätzlichen Giftigkeit der Wachteln wird künstlich am Leben gehalten und übertrieben. Es sollten damit vielerorts Wilderer abgehalten werden. Der Schriftsteller Jean Paul schrieb 1826 beispielsweise:

“Ich habe dir neulich zu berichten vergessen, daß die Wachteln in Neapel acht Tage lang nach ihrer Ankunft aus Afrika giftig zu genießen sind, und ich las es selbst erst im FERBER; allein nachher kann sie jede Wöchnerin essen, wenn sie mit Korn gefüttert worden. Es schadet nicht viel, dass die streichenden Edelleute aus Paris auch einen gewissen Gift als Rückfracht heim bringen, den man unter dem Namen der französischen atheistischen Philosophie recht allgemein scheuet: sie bleiben auch nicht lange giftig, besonders wenn man sie auslacht und nicht bekriegt.“ (Jean Paul 1826, S. 237)

Die Wachteln müssen den Priestern, die die Mythologien verfasst haben, sowieso suspekt gewesen sein. Die Priester stammten aus den patriarchalen Hirtennomadenstämmen und als solche waren sie in der Herdenhaltung von Schafen bewandert. Sie brachten den verheerendsten Mensch/Tiervergleich überhaupt hervor: Der Herr ist Dein Hirte. Die Schafe als Sinnbild für Friedfertigkeit, Dummheit und Herdentrieb brauchten in der Zuchtherde auch nur einen einzigen Widder. Der dreht nicht durch, wenn er keine Konkurrenz hat wie ein Wachtelhahn. Die female choice der Schafe konnte in der Zuchtherde bequem außer Kraft gesetzt werden, so dass es aussah, als beherrsche der Widder als polygyner Patriarch die weiblichen Tiere. Dass die Wachteln dagegen unbedingt mehrere Hähne brauchten, passte nicht in das polygyne Patriarchat des Nahen Ostens. Weibchen, die sich Männchen nehmen wie und wann sie wollen? Das passt nicht zu einem Viehzüchter-Patriarchat und sie konterkarieren zudem die Geschichte von der Arche Noah, wo alle Tiere paarweise vorkommen. Wehe, Frauen lernen von den Wachtelhühnern!

Im patriarchalen Verständnis der abrahamitischen Religionen leben Wachteln in Sünde. Aber immerhin bekamen sie im Mythos einen Herrscher, der sie in Schach hält. Der Wachtelkönig ist zwar nicht mit der Wachtel verwandt, sondern gehört zu den Rallenvögeln, sein Name geht aber auf alte Vorstellungen zurück, nach denen er Anführer der Wachteln sei. Er ähnelt der Wachtel, ist aber größer. Weil er oft zusammen mit Wachteln gefangen wurde – man verwendete dazu Netze aus sog. Wachtelgarn – hielt man ihn für den König der Wachteln. Diese Volksetymologie zeigt wie sehr patriarchalisierte Menschen dazu neigen, besonders Hierarchien auf Tiere zu übertragen, als solle die Natürlichkeit der patriarchalen Hierarchie im Umkehrschluss bewiesen werden.

Wachtelkönig (Crex crex)

Wachtelkönig (Crex crex), Bildquelle: wikimedia commons, user: MPF

Wenn Redewendungen gewendete Wahrheit verwenden

Die Hackordnung als Synonym für die Hierarchie ist eine der Rückwärtsprojektionen von Tier auf Mensch. Die Vögel werden im Übrigen dafür besonders gerne genommen, denn sie leben meist in Paaren, wenn auch nur selten lebenslang. Der Hausbau junger Eltern wird als Nestbau bezeichnet und viele Eltern werfen ihre Kinder aus dem Nest oder kümmern sich um das Nesthäkchen besonders intensiv. Schlechte Eltern gelten als Rabeneltern und gute Mütter als Glucke, oft negativ konnotiert. Kinder, die das Elternhaus verlassen, gelten als flügge. Die, die das nicht tun, werden als Nesthocker bezeichnet. Wir fliegen auf Dinge, die uns besonders interessieren, und fühlen uns flügellahm, wenn wir erschöpft sind. Männer fühlen sich gerne als Hahn im Korb oder es schwillt ihnen der Kamm, wenn sie sich ärgern, und sie sind eitel wie ein Pfau. Ein betrogener Ehemann ist ein Hahnrei. Frauen werden als dumme Hühner oder blöde Gans beschimpft. Die Spinatwachtel bezeichnet verächtlich eine ältere Frau. Und nicht die Mutter gebiert die Kinder, sondern es ist der Storch, der sie bringt. Demnach müssten wir alle Störche sein.

Wie auch immer die Vergleiche ausfallen, wir sind eine andere Spezies und wir leben von Natur aus in matrilinearen Sippenverbänden und nicht in Paaren. Die Gehirnwäsche aber läuft von Kindesbeinen an. Menschliche Dummheit liegt vor allem darin begründet. Es ist das Patriarchat, das für das „Spatzenhirn“ vieler Menschen verantwortlich ist, und das Wachtelexperiment zeigt, dass auch Tiere „verblöden“, wenn sie zu Patriarchen gemacht werden.

Oft haben solche Redewendungen allerdings uralte Wurzeln und sind nicht nur Projektionen. Der Storch (Geburt), die Taube (friedliches und glückliches Leben in Wohlstand, Beistand) und die Eule (Tod) waren Begleittiere der germanischen Muttergöttin Holda, die auf die altsteinzeitliche Urmutter zurück geht, uns bekannt als Frau Holle. Und ich vermutete, dass das auch für die Wachtel gilt, wozu ich allerdings weder bei Jacob Grimm noch bei Erika Timm Hinweise fand. Es gibt dafür dennoch sehr viele starke Indizien.

Mit dem Ruf „Fürchte Gott, trau auf Gott“ sollte die Wachtel gegen Blitzschlag schützen. In der germanischen Religion wurde der Wettergott Donar, der Sohn der Holda, für Blitzeinschläge verantwortlich gemacht, und Holda konnte davor schützen. „Im Oldenburger Münsterland ist die Wachtel, Kütjeblick, Tütjeblick, saterl. Roggefugel noch ein heiliges Tier; sie zu töten ist Sünde. Ihr Ruf ist vorbedeutend für den Preis des Roggens.“ (paraphr. nach Strackerjahn 1909) Der Wachholder, der regional auch Wachtel heißt und wie der Holunder Pflanze der Holda ist, symbolisiert als Machandelboom in Grimms Märchen die Große Mutter. Auf eine mythologische Verbindung der Wachtel mit Frau Holle und ihrem Brunnen könnte auch der thüringische Familienname Wachtelborn hinweisen. Nicht zuletzt könnte die merkwürdige „Spinatwachtel“ ein Hinweis auf die Große Mutter sein, die an ihrem Spinnrad sitzt.

Im Aberglauben wird den Wachteln immer noch Zauberkräfte zugesprochen: Bei Vollmond wachsen ihre Köpfe. Der Schlag einer Wachtel in der Nacht prophezeit den Tod, der diesen hört. Bei den Sinti und Roma Siebenbürgens gilt die Wachtel als weiblicher Teufelsvogel. Milch auf ein Feld zu spritzen, gilt als Mittel gegen die Vergiftung der Kühe mit sog. Wachtelkraut, welches durch Wachteln giftig geworden sein soll. Als Nivashi-Töchter sollen sie das Getreide stehlen, wogegen es hilft, an jeder Ecke des Feldes eine Wachtel oder wenigstens die Feder eines schwarzen Huhnes zu vergraben. Dieser Brauch hat auch auf die rumänische Landbevölkerung Siebenbürgens abgefärbt. (Vgl. von Wlislocki 1890, S. 208 f)

Dies sind starke Hinweise auf einen vorchristlichen, weiblichen Glaubensinhalt, der in christlicher Zeit dämonisiert wurde.

Bei den Römern und Griechen war Wachtelgehirn ein spezifisches Mittel gegen die Epilepsie, ohne jemals Wirkung entfaltet zu haben. Die Wachteln standen ihres Mutes und ihrer Kampfeslust wegen in großem Ansehen. In einem Mythos zur Entstehung der „Wachtelinsel Ortygia“ wird die Tochter des Koios mit dem Namen Asteria von Zeus in eine Wachtel verwandelt und er stürzt sie wie einen Felsen ins Meer, als sie sich seinen Annäherungsversuchen verweigert. Dabei ensteht die Insel. Die Botschaft des Patriarchats an alle Frauen lautet: Wehe, ihr lebt eure female choice! Das Beispiel zeigt ganz deutlich, dass es im Mythos nur vordergründig um die Erklärung der Welt geht. Mythen bzw. Glaubensinhalte verarbeiten ernsthafte psychiatrische Erkrankungen.

Der Mythos und sein Mythograph

So wie die Wachtel zum Mythos wurde, ist auch die sog. Hackordnung der Hühnervögel ein Mythos und Thorleif Schjelderup-Ebbe ist ihr Hohepriester. Er studierte nicht nur Zoologie, sondern schrieb auch Novellen und Kinderbücher. Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt! Dass Thorleif gerne fabulierte, entdeckte der Ethologe John Price (1995) nach einem psychologisch sehr aufschlussreichen Interview mit dessen Sohn Dag, nämlich dass seine Behauptung, er hätte der Royal Society of London angehört, dem renommiertesten wissenschaftlichen Bund in England, falsch war, und er stattdessen Mitglied der Royal Society of Arts of London war, des Kunstbundes also, schlicht erkauft mit Eintrittsgeld.

Schjelderup-Ebbe erlebte nicht mehr den wissenschaftlichen Aufstieg seiner als Dissertation ausgearbeiteten These, der lediglich Beobachtungen während seiner frühen Kindheit zugrunde lagen! Aber Schuld daran war seines Sohnes Dag (und dem Schreiberling bei wikipedia) zufolge natürlich eine Frau, die erste Professorin Norwegens (deren Namen wikipedia nicht nennt), die Zoologin Kristine Bonnevie, eine emanzipierte, sozialistische Frau, die gegen ihn stetig intrigiert haben soll. Er stand aufgrund einer Zuflüsterung bei ihr zunächst unter Verdacht, einen anonymen, denunzierenden Artikel gegen sie geschrieben zu haben. (Bald wurde mit dem Zoologiestudenten und späteren Novellisten Sigurd Hoel der wahre Täter entlarvt.) Dass sie und im Übrigen auch die (von wikipedia nicht erwähnten) männlichen Professoren in ganz Norwegen ihm die Anerkennung verweigerten, dürfte daran gelegen haben, dass man sich damals noch der gravierenden Schwächen der Arbeit bewusst war. Um seine weitere Existenz musste sich die Professorin offenbar auch keine Sorgen machen, und so lehnte sie die Arbeit ab: „No, your work is quite different. In any case you don’t need the job, you have money (…)“ (Bonnevie zitiert in Price 1995, S. 1). Sein Sohn Dag machte einst daraus, dass sein Vater Opfer der Hackordnung in der biologischen Hierarchie geworden sei (Price 1995, S. 1).

Kristine Bonnevie, Biologin und erste Professorin Norwegens. Portrait

Kristine Bonnevie, Biologin und erste Professorin Norwegens

Schjelderup-Ebbes sog. Hackordnung wurde von der Herrschenden Lehre schließlich doch rezipiert, und zwar durch den „Papst der Verhaltensforschung“ und „Gänsemutter“ Konrad Lorenz, der nicht nur suggerierte, er hätte sie entdeckt (vgl. Baeumer 1964), sondern später auch wegen seines Festhaltens an der sozialdarwinistischen Lehre der NS-Diktatur kritisiert wurde. Nach Lorenz’ Denkmalssturz wird jetzt dem Thorleif Schjelderup-Ebbe gehuldigt.

Wider besseres Wissen wird die Hackordnung nicht laut und deutlich revidiert, meiner Überzeugung nach aus zwei Gründen. Zum Einen lassen sich Menschen gerne ein X für ein U vormachen. Das Gehirn versucht, nach dem gesunden Menschenverstand falsche Behauptungen irgendwie zu integrieren. Menschen wollen glauben und nicht in permanentem Misstrauen und Zweifel leben. Wenn viele etwas sagen, dann kann es ja nicht falsch sein. Die Psychiatrie nennt das Normopathie (vgl. z.B. Maaz 2017). Zum Anderen erfüllt die sog. Hackordnung in dieser Gesellschaft mehr als den Zweck rein biologischer Erklärungen, lässt sie sich doch aufs Herrlichste missbrauchen, um das System, in dem wir leben, zu rechtfertigen. Sie ist ein Biologismus, der dringend der Entlarvung bedarf.

[1] Name geändert.

[2] Entwickelt in den Neunzehnhundertsiebziger Jahren in der Psychologischen Fakultät an der Freien Universität Berlin

Literatur