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Der Preis des Guten: Wenn Hilfe zur Herrschaft wird – eine Kritik des Helfens

By 12. Juli 2025September 19th, 2025No Comments

Prolog

In der öffentlichen Wahrnehmung gelten Helfer als moralisches Rückgrat der Gesellschaft. Ob im Gesundheitswesen, im sozialen Bereich, in Familien oder im Ehrenamt: Helfer-Persönlichkeiten werden gefeiert für ihre Selbstlosigkeit, Aufopferung und Nächstenliebe. Wer anderen dient, ist gut. Wer sich selbst dabei vergisst, wird oft sogar noch bewundert.
Doch dieser Mythos hat zwei Schattenseiten, die bislang kaum benannt werden und deren Opfer überwiegend weiblich sind: die Co-Abhängigkeit der Angehörigen und eine Gesellschaft, die von schädlicher Selbstausbeutung zusammengehalten wird. In der Literatur und im WWW gibt es vor allem Untersuchungen über das Leid der Helfer selbst, jedoch kaum eine unideologische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des exzessiven Helfens auf die Gesellschaft und noch weniger fundierte psychologische Informationen speziell über Partner von Menschen mit Helfersyndrom. Es gibt jedoch ein gewisses Bewusstsein in der Öffentlichkeit für die Probleme, die dabei als Kollateralschaden entstehen. Oft wird die Kritik an den Schäden jedoch als verzerrte Wahrnehmung oder Unmenschlichkeit, „Hass“, gecancelt. Der Wokeismus steht für diese Ideologie als Paradebeispiel. Wahlloses Helfen wird auch nicht selten schlicht als „Dummheit“ wahrgenommen. Die dahinterliegenden Aspekte werden jedoch kaum untersucht. Die Gender Pay Gap – besser Sex Pay Gap, denn es sind biologische Frauen, die benachteiligt werden und nicht eine Rolle oder eine Identität -, die Auswirkungen des Wokeismus auf die Politik und die Gesellschaft sind inzwischen hinreichend thematisiert, wenn auch nicht wirklich verstanden. Und was geschieht eigentlich mit den Menschen, die mit Helfern leben, was, wenn Hilfe zum identitätsstabilisierenden Selbstzweck wird? Meine These dabei ist: Das Patriarchat, die Herrschaft der Väter, hat sich seit jüngerer Zeit ein vorgeschobenes Helfer-Syndrom zugelegt und macht sich damit an der Wurzel unangreifbar. Es ist eine der Machtstrategien des Patriarchats. Dies erklärt die breite Zustimmung zu Appellen, dass die Väter die Care-Arbeit übernehmen sollen. Neoliberale Politik folgt diesem Muster, u.a. indem Mütter für ihre Rente Vollzeit zu arbeiten haben. Kurz gesagt: dass Väter die besseren Mütter seien, muss auf Biegen und Brechen gezeigt werden.

Der Blick der interdisziplinären Patriarchatsforschung auf diesen Komplex umfasst zwangsläufig auch die psychologischen Grundlagen der Krankheit Patriarchat, der Patriarchose1nach Dagmar Margotsdotter, und ordnet das Helfer-Syndrom unter dem Kollektiven Stockholm-Syndrom2nach Stephanie Gogolin, Vgl. Gogolin 2019-2024 ein, der Mittäterschaft der Entführten. Denn das Patriarchat ist ein Entführungsverbrechen, wie ich es an anderen Stellen bereits ausgeführt habe 3z.B. Uhlmann 2018. So hart der Begriff Täter auch klingen mag, es geht hier nicht um Verurteilung, um Schuldzuweisung an den Einzelnen, sondern um eine gesellschaftliche Analyse, die allen Beteiligten Erleichterung verschaffen soll. Sie ist dabei auch keine Entschuldigung, sondern die Aufforderung an alle, das Muster zu erkennen und daran zu arbeiten.

Psychologische und anthropologische Grundlagen

Helfer-Syndrom ist keine offizielle Diagnose, doch in der psychologischen Literatur gut beschrieben: ein starker Wunsch gebraucht zu werden, gepaart mit Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse zu erkennen oder Grenzen zu setzen. Dieser Wunsch kann so tief verwurzelt sein, dass er zur Grundlage der eigenen Identität wird. Das Helfer-Syndrom hat mitunter den Charakter einer Sucht4Vgl. Wolf 2024, eines Fetischismus5Vgl. Schiefer/Köhler 2025b oder einer Zwangsstörung und die Angehörigen geraten nicht selten in den Zustand einer Co-Abhängigkeit. Die Folgen sind daher paradox: Wer übermäßig hilft, kann andere entmündigen. Wer sich selbst aufgibt, erwartet oft unausgesprochen Gegenleistungen – etwa Dankbarkeit, Loyalität oder emotionale Schonung.
Ein Aspekt ist dabei die massive externale Fokussierung, wie sie von Schiefer und Köhler beschrieben wurde: „Massive externale Fokussierung zeigt sich zum Beispiel durch Engagement speziell für Ausländer, Engagement in der Entwicklungs- oder Flüchtlingshilfe oder in der zwischenmenschlichen oder generellen Bevorzugung von Menschen möglichst völlig fremder Kulturen.6Köhler/Schiefer 2025a Die federführende Beteiligung des Intersektionalen Feminismus an Transaktivismus und Antisemitismus zeigt, wie geschickt es dem Patriarchat gelingt, insbesondere Frauen als nützliche Idioten einzuspannen. Die Selbstaufgabe wurzelt nicht selten in einem tiefen Selbsthass, der jedoch geleugnet wird und auf die Kritiker projiziert wird.
Helfer-Persönlichkeiten richten ihre gesamte Wahrnehmung auf die Bedürfnisse anderer, um sich nicht mit den eigenen inneren Konflikten konfrontieren zu müssen oder wie im Beispiel des Intersektionalen Feminismus mit Kritik am Patriarchat anzuecken. Diese externalisierende Tendenz, die häufig aus früher Parentifizierung oder unaufgelösten Traumata stammt, führt dazu, dass sie ständig außerhalb ihrer selbst funktionieren – für andere, gegen sich. Der Primatenforscher Frans de Waal hat im Kontext der Verhaltensforschung auf den sogenannten „egoistischen Altruismus“ hingewiesen: Auch Tiere helfen, wenn sie dadurch ihre soziale Sicherheit festigen. Altruismus, so de Waal, ist nie ganz eigennutzfrei (vgl. De Waal 2015) – und genau darin liegt auch in menschlichen Helferdynamiken eine unterschätzte Ambivalenz.
Die Ursachen für das Helfer-Syndrom liegen in der Kindheit. Instrumentelle oder emotionale Parentifizierung haben das Kind in eine Elternrolle gezwungen. Die Traumatherapeutin Verena König schreibt: „In Familien mit körperlich, psychisch oder suchtkranken Eltern gehört Parentifizierung zur Tagesordnung. Aber auch in jeder anderen Konstellation, in der Eltern emotional und körperlich nicht in ihrer Kraft sind, werden Kinder dem Druck ausgesetzt, für ihre Eltern zu sorgen und ihre Last mitzutragen.7König, S. 103

Strukturelle Ausbeutung

Das zeigt sich nicht nur im politischen oder familiären Bereich, sondern auch im Beruf: Der pflichtbewusste Angestellte, der freiwillig unbezahlte Überstunden macht, der selbstständige Dienstleister, der sich nicht traut, angemessene Preise zu verlangen, die freischaffende Frau, die glaubt, dass ihre Arbeit weniger wert sei, weil sie sich „zum Helfen geboren“ fühlt und Angst vor dem „Nein“ hat – all das sind Ausprägungen eines strukturellen Helfer-Syndroms, das ökonomisch wirksam wird. Besonders sichtbar wird dies an der Mutter, deren unbezahlte Sorgearbeit als selbstverständlich gilt und systematisch unsichtbar bleibt. Diese Formen freiwilliger Selbstausbeutung stützen ein ökonomisches System, das auf kostenloser oder unterbezahlter Frauenarbeit fußt.
So wird die Ausbeutung durch das Patriarchat nicht als Verbrechen erkannt, sondern als Tugend verklärt. Die Schuld wird dabei den Ausgebeuteten selbst zugeschoben: Sie hätten es so gewollt, sich selbst geopfert, sich nicht genug gewehrt. Helfer selbst zweifeln an sich und entwickeln zusätzlich das sog. Hochstapler-Syndrom: Sie seien eben tatsächlich nicht gut genug. Doch all das entspricht nicht den Tatsachen und es greift zu kurz. Auch das Helfer-Syndrom ist keine bewusste Wahl, keine angeborene Charaktereigenschaft, sondern die Folge früher Bindungsstörungen und sozialer Erwartung. Doch gefährlich wird es, wenn aus diesem Opferstatus ein Handlungsmuster entsteht, das andere mit in den Strudel zieht. Wenn Helfende sich als unersetzlich erleben, andere emotional abhängig machen oder sogar ihre Partnerinnen gezielt ausschließen – dann werden Opfer zu Mit-Tätern in einem perfekt abgesicherten System.

Familiäre Dynamiken

Hilfe wird dann zur moralischen Waffe: Wer hilft, kann nicht falsch liegen. Wer kritisiert, wirkt herzlos. Und das System, das auf dieser Hilfe beruht, bleibt unanfechtbar. Was als Altruismus erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen oft als moralisch aufgeladene Machtausübung – ein Heldenkult in seiner stillsten, scheinbar friedfertigsten Form. Die Folgen: zerstörte Beziehungen, verdeckte Konkurrenz, psychische Überlastung und ein Gefühl von Illoyalität, das die Partnerschaft zersetzt.
Wenn ein Partner heimlich Geld verschenkt oder verleiht, seine Zeit statt, wie vorgegeben mit Überstunden, in Wirklichkeit bei anderen verbringt, um deren Haus zu bauen, leidet eine Familie auch finanziell, ähnlich wie bei der Spielsucht.
Das Helfer-Syndrom ist in vielen Fällen Teil einer transgenerationalen Weitergabe: Häufig sind es Männer, die als Kinder selbst parentifiziert wurden – etwa durch eine überforderte oder gewaltbetroffene Mutter –, die gelernt haben, emotional verfügbar zu sein, um Konflikte zu vermeiden. In patriarchalen Familienstrukturen werden solche Rollen unbewusst weitergetragen: Wenn sich der Vater in seine Helfer-Rolle zurückzieht, verschiebt er seine emotionale Energie auf die Kinder. Die Mutter erlebt sich als ausgegrenzt, emotional entwertet, und muss sich gleichzeitig rechtfertigen, wenn sie das Helfen hinterfragt. Sie lernt schlimmstenfalls, sich kleinzumachen oder zu schweigen, um nicht als „undankbar“ zu gelten. Wenn zusätzlich ein Mutter-Tochter-Konflikt verliegt, wird der „helfende Vater“ zum moralischen Bezugspunkt. Er kann sich in vermeintlicher Neutralität üben, womit er in Wirklichkeit die familiären Loyalitäten verschiebt. Wenn der Vater die Tochter auf seine Seite zieht, indirekt die Mutter als überforderte oder problematische Figur darstellt, wird ihre Autorität damit unterwandert und es entsteht ein Entfremdungsprozess, die Mutter steht zunehmend isoliert da. Die Tochter wird zum empathischen Gegenüber des Vaters, womit sich das Helfer-Syndrom nicht nur vererbt, es befeuert auch familiäre Spaltung im sensiblen, weil evolutionär wesentlichen Mutter-Tochter-Verhältnis. Wenn der helfende Vater als Großvater dabei auch die mütterliche Großmutter verdrängt, sofern das nicht schon der Vater der Enkel erledigt hat, wird die traditionell verkannte, evolutionäre Bindungsstruktur zwischen Großmutter, Mutter und Tochter endgültig zerschlagen. Die Großmutterthese8bekannt als Großmutterhypothese zeigt, dass ohne die mütterliche Großmutter die Menschheit nicht ihr hohes Sozialverhalten, letztlich ihre Intelligenz hätte entwickeln können9Vgl. Uhlmann 2017. Die väterliche Figur, der institutionalisierte Vater, tritt nicht nur zwischen die Mutter und das Kind, sondern verdrängt systematisch das matrifokale Generationenkontinuum. Das ist mehr als familiäre Dynamik – es wirkt wie ein symbolischer Endsieg des Patriarchats: die totale Herrschaft des Vaters über Herkunft, Bindung und Zukunft, auch wenn das gar nicht beabsichtigt war. Das Private ist das Politische, ob wir wollen oder nicht.

Herrschaft unter dem Banner des Guten – Rechtliche & gesellschaftliche Instrumentalisierung

In der erweiterten Perspektive wird deutlich, dass das Helfer-Syndrom eine strukturelle Funktion erfüllen kann: Es wird zu einer neuen tragenden Säule des väterlich dominierten Systems – des sogenannten Vaterrechts im Neo-Patriarchat. Dass Väter sich wie eine Mutter um die Kinder kümmern10Vgl. Gogolin 2024, gibt es erst flächendeckend, seit sich die Kleinfamilie durchgesetzt hat. Eine Scheidungsrate nahe 50% und eine hohe Trennungsrate machen sie mehr und mehr zu einem unsicheren Lebensmodell. „Plötzlich wird alles unsicher: die Form des Zusammenlebens, wer wo wie was arbeitet, die Auffassungen von Sexualität und Liebe und ihre Einbindung in Ehe und Familie, die Institution der Elternschaft zerfällt in das Gegeneinander von Mutterschaft und Vaterschaft; Kinder mit der in ihnen enthaltenen, jetzt anachronistisch werdenden Bindungsintensität werden zu den letzten Partnern, die nicht gehen.“11Beck 2016, S. 180 Mit der Familie verliert der Vater seine Fürsorgegruppe. In diesem Moment stürzt er sich regelrecht auf die Kinder und Kindeskinder und drängt ihnen seine Hilfe auf. Der Vater entdeckt plötzlich seine „Vatergefühle“. Bei Weitem nicht alle modernen Väter haben ein Helfer-Syndrom, aber spätestens im Falle der Trennung zeigen sie ein sehr ähnliches Verhaltensmuster, das gesellschaftlich mittlerweile hochangesehen ist.
Indem sich der „helfende Vater“ als ruhiger, zuverlässiger, stets verfügbarer Elternteil inszeniert, während die Mutter unter psychischer Belastung oder starker emotionaler Reaktion steht, entsteht ein verzerrtes Bild, das auch juristisch wirksam werden kann. In familiengerichtlichen Auseinandersetzungen um Sorge- oder Umgangsrecht führt diese Dynamik nicht selten dazu, dass Müttern pauschal emotionale Instabilität oder fehlende Kooperationsbereitschaft unterstellt wird12vgl. Mundlos 2023 – während Väter als ruhig und sachlich gelten, weil sie ihre emotionalen Konflikte auslagern, etwa in Helferrollen gegenüber den Kindern. Dies kann – subtil, aber wirksam – zu einer Form von strukturellem Kindesentzug führen, legitimiert durch das Bild des „verlässlichen Helfers“.
Noch paradoxer wird dies vor dem Hintergrund feministischer Forderungen: Die berechtigte gesellschaftliche Debatte um mehr väterliche Beteiligung wird – in manchen Fällen – zum Verstärker eines Systems, das auf emotionaler Entwertung der Mütter basiert. Die Forderung nach Gleichstellung wird dadurch pervertiert: Nicht zwei starke Elternteile agieren gemeinsam, sondern ein systemisch aufgewerteter Helfer-Vater tritt in Konkurrenz zur emotional ausgebremsten Mutter. Die Folge: psychische Schieflagen werden überdeckt durch rechtliche Gleichstellung – und familiäre Dysbalancen als Fortschritt verbrämt.
In diesem Zusammenhang lohnt sich ein weiterer kritischer Blick auf die sogenannte PAS-Diagnose (Parental Alienation Syndrome), eine Pseudo-Diagnose, die lange Zeit in Sorgerechtskonflikten als Argumentationshilfe gegen Mütter verwendet wurde. Obwohl wissenschaftlich nicht anerkannt, wurde PAS von Gerichten wiederholt herangezogen, um Müttern Entfremdung der Kinder und eine „Bindungsintoleranz“ zu unterstellen – oft in genau jenen Fällen, in denen sie sich gegen verdeckte oder offene Vereinnahmung durch den Vater zur Wehr setzten. Ähnlich problematisch ist das Konzept des „Maternal Gatekeeping“, das Müttern unterstellt, sie würden Väter bewusst aus der Elternrolle ausschließen. Tatsächlich handelt es sich häufig um den Versuch, das eigene Beziehungsgefüge zu schützen – etwa vor einer Helferdynamik, die emotional übergriffig ist. Diese Form toxischer Männlichkeit arbeitet nicht mit plumper Gewalt, sondern subtil und oberflächlich moralisch einwandfrei. Die Protagonisten dieser Väterlobby haben in der Vergangenheit erfolgreich unter Drücken auf die Tränendrüsen zahlreiche Gesetzesänderungen erwirkt, mit denen die Abschaffung der Freiheit der Mütter verbunden war und ist13vgl. MIA e.V. 2024.

Psychosoziale Folgen für Angehörige

Für Angehörige, die mit Helfer-Persönlichkeiten leben, entstehen daraus immer häufiger Gefühle von Nutzlosigkeit, Entwertung und Ohnmacht. Sie dürfen wenig selbst entscheiden, erleben sich zunehmend als „Störfaktor“ oder Belastung. Während der Helfende von außen als stark, gut und aufopferungsvoll wahrgenommen wird, erscheinen seine engsten Bezugspersonen – insbesondere Partnerinnen – in der Öffentlichkeit leicht als undankbar, überfordernd oder sogar manipulativ und narzisstisch. Diese verzerrte Außenwirkung trägt wesentlich zur inneren Vereinsamung der Betroffenen bei und verstärkt deren Rückzug.
Erschwerend kommt eine gesellschaftlich tief verwurzelte Vorstellung von „Gutmenschentum“ hinzu. Die pauschale Abwertung jeder Kritik an Helfer-Persönlichkeiten als Zynismus oder Herzlosigkeit verhindert, dass über ihre destruktiven Wirkungen offen gesprochen werden kann. Wer nicht bereit ist, „die andere Wange hinzuhalten“ – wie es ein bekanntes Jesus-Wort fordert –, gerät schnell unter moralischen Verdacht. Doch die völlige Selbstverleugnung als Ideal von Ethik zu verklären, führt zur paradoxen Umkehr: Die Selbstlosen beherrschen mit moralischer Überlegenheit, und jene, die sich abgrenzen, gelten als schuldig.
Diese Form von Co-Abhängigkeit bei Helfer-Syndrom ist bislang kaum erforscht. Sie wird in Fachkreisen gelegentlich als „unsichtbare Belastung im Nahraum von Helfern“ bezeichnet, doch systematische Studien fehlen. Die mediale Aufmerksamkeit liegt fast ausschließlich auf den Belastungen der Helfenden selbst – Burnout, Depression, Erschöpfung. Dass Helfen auch eine Form von Kontrolle und Konfliktvermeidung sein kann, wird selten thematisiert.
Dabei wäre genau das dringend notwendig. Denn solange das Bild des uneigennützigen Helfens unhinterfragt bleibt, fehlt der Raum für diejenigen, die darunter leiden. Und solange Co-Abhängigkeit nur im Kontext von Sucht diskutiert wird, bleiben andere zerstörerische Beziehungsmuster im Verborgenen.
In vielen Fällen erkennen betroffene Partnerinnen ihre Situation erst sehr spät, oft erst, wenn sich psychische oder psychosomatische Beschwerden manifestieren: Schlafstörungen, Angstzustände, depressive Verstimmungen oder chronische Erschöpfung. Denn das ständige Rücksichtnehmen, das „Nicht-stören-Wollen“ ist kein neutraler Zustand, sondern eine Anpassung an einen emotionalen Missbrauch. Es ist ein dauerhaft erhöhter emotionaler Stress, der den Organismus genauso belasten kann wie ein akuter Konflikt. Nur eben stiller, langsamer, schwerer zu fassen.
Ein weiteres Problem liegt darin, dass das Umfeld der Helfer, insbesondere die Familie, häufig zur Mitinszenierung des Helferbildes beiträgt. Kinder lernen früh, dass Hilfe leisten mit Anerkennung verbunden ist, dass Zurückhaltung der eigenen Bedürfnisse ein Zeichen von Charakterstärke ist und dass emotionale Bedürfnisse „nicht stören“ sollen. So entstehen familiäre Mikro-Kulturen, in denen sich das Helfer-Syndrom von Generation zu Generation weitervererbt – oft begleitet von verdeckter Schuld, unerkannten Loyalitätskonflikten und impliziten Rollenzuschreibungen.

Fazit & Ausblick

Was es braucht, ist eine differenzierte Diskussion über die dunkle Seite des Helfens. Nicht, um die Leistung von Helfern zu diskreditieren, sondern um die psychische Integrität ihrer Angehörigen ernst zu nehmen. Hilfe kann im Privaten wie im öffentlichen Raum eine toxische Wirkung entfalten. Sie ist dann gesund, wenn sie frei gespendet wird – nicht, wenn sie zur emotionalen Infrastruktur eines Systems wird, das nur funktioniert, weil andere stillschweigend mittragen.
Auch aus gesellschaftlicher Perspektive ist dieses Thema brisant. In Pflegeberufen, im Ehrenamt, in familiären Versorgungsnetzwerken sind Helfer-Persönlichkeiten strukturell unentbehrlich. Die stillen Mitträger im Hintergrund – meist weiblich, oft über Jahrzehnte angepasst und leistungsbereit – bleiben unsichtbar, solange sie funktionieren. Wenn sie jedoch ausfallen, erschüttert das nicht nur das Helfersystem, sondern auch das soziale Gefüge. Das heißt: Unsere Gesellschaft ist auf das Helfer-Syndrom angewiesen – und darauf, dass niemand laut fragt, wer darunter leidet.
Wer hilft, darf das reflektiert tun. Erst dann wird Hilfe wirklich menschlich. Erst dann ist sie frei.

Mein Dank gilt Stephanie Gogolin für die wertvollen Hinweise.
Gabriele Uhlmann im Juli 2025

Literatur

  • 1
    nach Dagmar Margotsdotter
  • 2
    nach Stephanie Gogolin, Vgl. Gogolin 2019-2024
  • 3
    z.B. Uhlmann 2018
  • 4
    Vgl. Wolf 2024
  • 5
    Vgl. Schiefer/Köhler 2025b
  • 6
    Köhler/Schiefer 2025a
  • 7
    König, S. 103
  • 8
    bekannt als Großmutterhypothese
  • 9
    Vgl. Uhlmann 2017
  • 10
    Vgl. Gogolin 2024
  • 11
    Beck 2016, S. 180
  • 12
    vgl. Mundlos 2023
  • 13
    vgl. MIA e.V. 2024
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